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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Wichtigste in ihrem Leben sein wird – Krieg. Mit jedem, der zu Besuch kam, wandte sich das Gespräch zwangsläufig den Schützengräben zu. Nein, weder Gewalt noch Pornographie und Sadismus unterscheiden die heutige Zeit von der damaligen, sondern die Tatsache, dass man Kinder damals weniger vor schweren Dingen des Lebens geschützt und ihnen viel mehr zugemutet hat. Ich erinnere mich nicht, jemals von meinen Eltern gehört zu haben: »Das ist zu schwer für dich.« Nein, nichts als zufriedene Glückwünsche, weil ich mich an
The Talisman
heranwagte oder dergleichen. Man müsste das
Merry-Go-Round
mit der seichten Albernheit einer Kindersendung im Fernsehen vergleichen, um zu sehen, wie tief wir heute alle gesunken sind.
    Bevor ich in die Klosterschule kam, besuchte ich zwei Schulen für kleinere Kinder. Die erste war die Schule von Rumbavu Park, vor den Toren Salisburys, die von einer Familie Peach geleitet wurde. Ich, gerade sieben, und mein vierjähriger Bruder wurden gemeinsam dort eingeschult, und ich sollte auf ihn aufpassen. Aber genau wie ich vergötterten auch alle anderen meinen kleinen Bruder. Er wurde ständig von den großen neun- bis zehnjährigen Mädchen umhegt, die ihn wie eine Puppe mit sich herumschleppten. In dieser Schule herrschte ein sanfter Ton, sie wurde von vornehmen Menschen –
gentlefolk –
geleitet. Das Wort erwähne ich, weil die Hausmutter, Mrs. James, es ständig im Mund führte. Wie Angehörige der russischen Intelligenzija, die heute von ihrer edlen Herkunft reden und die vielen Jahrzehnte der Revolution und des Egalitarismus verächtlich abtun, so schien Mrs. James mit jedem Satz zu behaupten:
»Meine Familie ist etwas Besseres.«
Sie war eine der vielen Engländerinnen des bürgerlichen Mittelstandes, die sich von den ungehobelten Manieren der Kolonialgesellschaft bedroht fühlten, aber anders als die meisten, die lediglich der Ansicht sind, sie wären auf irgendeine unsagbare und undefinierbare Weise überlegen, meinte Mrs. James mit diesem Satz eher dasselbe wie die Russen: Sie verstand sich als Erbin einer literarischen, musikalischen und künstlerischen Tradition. Sie war eine große, dunkelhäutige, zigeunerhafte Frau mit glatten schwarzen Haaren, wie die Dorelia von Augustus John, eine Urmutter, lange bevor das Wort in Mode kam, und sie war herzensgut. Als ich kleine Aufsätze über Blumen und Vögel schrieb, sagte sie mir, ich sei wundervoll, und zeigte sie allen. Sie bürstete mir die Haare und brachte mir bei, mich unter den Armen und zwischen den Beinen zu waschen, weil sie einen Horror vor allzu viel Natur hatte. Und ich durfte auf ihrem breiten Schoß sitzen, während sie seufzte und die Primitivität ihrer Umwelt und ihr trauriges Los beklagte, das sie zur Hausmutter in einem Internat hatte werden lassen. Wenn meine Eltern zu Besuch kamen, präsentierte Mrs. James ihnen meinen Bruder und mich, als hätte sie uns geschaffen. Ich war dort alles andere als unglücklich, sondern ganz erfüllt von den Aufregungen und der Freude an neuen Entdeckungen. Der malerische Garten erstreckte sich über mehrere Hänge – und tut es bis heute. Terrassen und Brunnen und Wasserbecken und Bäume und Blumen: Der Garten war eine Sehenswürdigkeit, und am Wochenende kamen die Leute aus Salisbury herausgefahren, um ihn zu bewundern.
    Ein Trimester habe ich auf der Schule in Rumbavu Park verbracht. Es war eine endlos lange Zeit, eine Ewigkeit. Aber als ich jene zwei Jahre in Zeitabschnitte einteilte, musste ich mir eingestehen, dass es nur ein Trimester war. Ich muss es einsehen. Es kann nicht sein, aber so war es. Wenn ich nur hätte dableiben können, aber die Peaches machten Bankrott, ein Unglück nicht nur für sie, sondern auch für die Kinder auf ihrer Schule. Kurz bevor ich dort abreiste, trug sich etwas zu, das eine Kernfrage dieser Memoiren veranschaulichen kann: Wodurch werden unsere Erwartungen geprägt?
    Sybil Thorndike befand sich auf einer Gastspielreise durch Südrhodesien, sie spielte Lady Macbeth. Den älteren Kindern wurde erlaubt, eine Vorstellung mit ihr zu besuchen. Mir hatte man das in Aussicht gestellt für den Fall, dass Mary Peach nicht rechtzeitig aus England zurückkehren sollte, wo sie gerade Urlaub machte. Sie kam am Nachmittag der Vorstellung wieder, und ich durfte nicht mit. Sie kam zu mir, ein großes Mädchen, mindestens zwölf, um mir höflich zu sagen, wie leid es ihr tue, dass sie mir diese Enttäuschung bereite. Ich weiß noch, wie ich ihr

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