Unter der Haut (German Edition)
Außerdem standen wir ständig unter dem Druck des: Wir sind so arm, es geht uns so schlecht – und das hieß: Es ist nicht zu ändern. Ich las
Der schwarze Jack
und identifizierte mich mit Kipling als kleinem Jungen, genau wie meine Mutter es vor mir getan hatte, aber meine Mutter umarmte mich nicht weinend: Ach, mein Kleines, mein armes Kleines – wenn ich den Arm hob, um einen Schlag abzuwehren. Es gab keine Schläge, nur eiskalten Sarkasmus und verbalen Druck. Und ich arbeitete mich zu
Staaks und Genossen
vor, einem Buch voll von Informationen über Grausamkeiten an den Schulen. Die Literatur vermittelt komplexere Einsichten über die Welt als:
Das ist ungerecht
, aber sie entfaltet ihr Leben in einem anderen Teil des Gehirns.
Ich hatte, kurz gesagt, begonnen, die Weltkarte in den Farbtönen und -schattierungen der Literatur auszumalen. Was (zumindest) zweierlei bewirkt. Zum einen verfeinert Literatur das Wissen über die Mitmenschen. Zum anderen vermittelt es Informationen über Gesellschaften, Länder, Klassen, Lebensweisen. Ein schlechtes Buch sagt nichts über Menschen aus – sondern nur über den Verfasser. Ein schlechtes Buch weiß nicht viel von Liebe, Hass, Tod und so weiter. Aber ein schlechtes kann einem viel von einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Ort erzählen – über historische Fakten, Sitten und Gebräuche. Ein gutes Buch tut beides.
Aber schlechte Bücher las ich erst später. Was damals und in den folgenden drei bis vier Jahren aus London zu uns auf die Farm kam, waren erstaunlich viele, verschiedenartige Bücher. Man musste sie per Post bestellen, und die Bestellungen waren einen guten Monat unterwegs. Die Bücher kamen auf dem Seeweg, der drei Wochen dauerte, dann wurden sie mit dem Zug von der Küste nach Salisbury, mit einem anderen Zug nach Banket befördert, und dort mussten sie schließlich am Bahnhof abgeholt werden.
An die folgenden Bücher kann ich mich erinnern. John Bunyan.
Bibelgeschichten für Kinder. Englische Geschichte für Kinder.
Die Kreuzzüge – in denen Saladin dargestellt war wie ein englischer Gentleman. Die Schlachten von Crécy, Agincourt, Waterloo, der Krimkrieg, Lebensgeschichten von Napoleon, Benjamin Franklin, Jefferson, Lincoln, Brunel, Cecil Rhodes. Kinderbücher wie
John Halifax, Gentleman; Robinson Crusoe; Die Schweizer Familie Robinson; Lobo, the Wolf
(aus Amerika, von Ernest Seton Thompson).
Alice im Wunderland
und
Alice hinter den Spiegeln, The Christopher Robin Story Book, Black Beauty
, Stevensons
Verses for Children, Jock vom Buschveld, Florence Nightingale
und – nicht zuletzt –
Biffel a Trek Ox
, die Geschichte eines Ochsen, der bei der Rinderpestepidemie von, ich glaube, 1896 starb, ein Buch, das jedem Kind unvergesslich bleibt, das es im richtigen Alter liest.
Der geheime Garten. The Forest Lovers.
Eine ganze Serie kleiner, angeblich wahrer Geschichten über das Leben der Kinder in Island, Indien, Frankreich, Deutschland – überall –, lustige kleine Geschichten, lustige kleine Leben, die Pendants zu den Fibeln mit Sätzen wie: »John und Betty spielen so gern mit ihrem Hund Spot«, aber vermutlich ist die Information, dass man in Norwegen Ski läuft und in der Schweiz jodelt, auch nicht gerade unwichtig.
Mitte 1927 durfte ich endlich von Mrs. Scott fort, denn ich sollte auf die Klosterschule, auf die man mich bereits mit der Warnung vorbereitet hatte, dass sie – die Katholiken – versuchen würden, mich zu »kriegen«, und ich auf der Hut sein müsse. In der Klosterschule, die immer mehr protestantische als katholische Schülerinnen hatte, waren sie es gewohnt, ängstlichen Eltern zu versichern, dass die Seelen ihrer Sprösslinge bei (und vor) ihnen sicher wären. Die Klosterschule galt, genau wie die Klosterschulen auf den Britischen Inseln, als vornehmer als die Highschool. Ich lerne immer wieder Frauen kennen, die aus diesem Grunde auf eine Klosterschule geschickt wurden. Die Klosterschule in Salisbury verdankte diesen Ruf aber falschen Vergleichen mit der Heimat. Ich hatte ein Stipendium. In diesem Jahr, dem dritten Jahr auf der Farm, zeichnete sich deutlich ab, dass wir nicht so schnell aus unseren Schwierigkeiten herauskommen würden. Mein Vater baute Tabakspeicher, weil mit Mais kein größerer Gewinn mehr zu machen war. Hatte er, der sich mit seinem Holzbein nur eingeschränkt bewegen konnte, denn wirklich vor, ein paarmal nachts aufzustehen, um die Temperatur in einem meilenweit entfernt liegenden
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