Unter der Haut (German Edition)
und versuchte, mein Gesicht in die frische Luft von draußen zu halten, während Mrs. Scott vor dem Fenster weinte und ihm vorwarf, dass er sie nicht liebe. Er tröstete sie und versicherte ihr ein ums andere Mal, dass er sie doch liebe, das sei doch nur Kindermund. An diesem Punkt müsste ich mich eigentlich daran erinnern können, Zeugin ihres Geschlechtsverkehrs geworden zu sein mit den entsprechenden traumatischen Folgen, aber nein, mich wurmte schlicht die Ungerechtigkeit der Sache, denn ich hatte nur beschrieben, was ich gesehen hatte. Mrs. Scott redete mich danach ausschließlich in einem kalten, sarkastischen Ton an. Es waren mehrere Kinder im Haus, aber ich erinnere mich nur an ihre Tochter Nancy, die mich mit Kleinigkeiten drangsalierte. Eines Tages erzählte sie ihrer Mutter, dass ich in der Schule hinter die Klohäuser schliche, um mir die braunen Hinterteile anzuschauen. Ein solches Vergehen war mir nie in den Sinn gekommen. Mrs. Scott hatte keine Erlaubnis, mich zu schlagen – davon hielt meine Mutter nichts –, aber sie ohrfeigte und schlug ihre eigene Tochter, genau wie Mr. Scott es tat. Ich hatte Angst, dass sie mich auch schlagen würde, denn sie glaubte mir nicht, als ich sagte, dass es gelogen sei. Sie erzählte meinen Eltern davon, die sofort herbeieilten, sofern das denn das richtige Wort ist für das Schneckentempo, in dem sie fahren konnten. Ob ich das getan hätte? Nein. Du weißt, man darf nicht lügen. »Lügen ist viel schlimmer als ungezogen sein.« Sie glaubten mir. Mein kleiner Bruder kicherte. Merkwürdig, dass ich so wenig von meinem geliebten kleinen Bruder behalten habe, abgesehen davon, dass ich ihn gegen die unfreundliche Nancy verteidigte.
Januar bis Juni 1927 . Mein siebentes Jahr. Ich hatte Heimweh und war todunglücklich. Doch im Vergleich zu dem, was heute an den Schulen los ist und was an körperlicher und verbaler Gewalt zu beobachten ist, waren Mrs. Scotts Unfreundlichkeit und Nancys Gemeinheit eine Kleinigkeit. Wenn junge Freunde von mir erzählen, wie es heute selbst an Schulen mit gutem Ruf zugeht, traue ich meinen Ohren nicht. Nicht, weil die Kinder grausam sind – denn die meisten sind einfach von Natur aus vollkommen ungezügelte Monster. Nein, weil die Lehrer außerstande zu sein scheinen, die Gewalt zu verhindern. Vielleicht wollen sie es gar nicht, sondern finden Gefallen daran? Schließlich berichtet sogar Prince Charles, dass man ihm in der Eliteschule Gordonstoun den Kopf ins Klo gehalten hat, während ein anderer die Wasserspülung betätigte. Wenn so etwas den Obersten im Staate verordnet wird, dann brauchen gewöhnliche Sterbliche nichts Besseres zu erwarten. Wir sind ein barbarisches Volk.
Noch lange Zeit wurde mir flau, wenn wir an dem mittlerweile längst abgerissenen Haus mit seinem großen Garten vorbeifuhren, und ich drehte den Kopf weg, um es nicht sehen zu müssen. Die Avondale School, an der ich solche Erfolge feierte, steht nach wie vor unverändert da.
Zu den Literaturempfehlungen meiner Mutter gehörte eine Serie pädagogischer Kindergeschichten über Heilige, wie zum Beispiel Elisabeth von Ungarn, die vom Himmel mit Rosenkränzen überhäuft wurde, um ihren Gemahl, der ihre guten Taten missbilligte, zu beschämen. Mich überkam die tiefe Sehnsucht, ein guter Mensch zu werden, und auf einem Stückchen unbebauten Landes hinter Mrs. Scotts Haus baute ich eine Kathedrale aus Sonnenblumenstielen. Welches Vergnügen bereitete mir die Planung und Ausführung des Bauwerks, während ich ganz und gar von den Geschichten über die heiligen Frauen erfüllt war, die allen Verfolgungen trotzten. Ich arbeitete mit den zarten, langen Stielen, die dreimal so hoch waren wie ich, und war in meiner Fantasie dabei, eine herrliche Kirche zu errichten, für die Gott selbst mich loben würde. Währenddessen lauschte ich auf Stimmen, die ich bestimmt hören könnte, wenn ich mich nur gehörig konzentrierte, und die mir versicherten, dass ich in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen würde. Allein Mrs. Scott verstand nicht, wozu ich diese Stiele aus den zum Verbrennen vorgesehenen Haufen gezerrt hatte. Wenn man Kindern die Köpfe mit Heiligenlegenden vollstopft, werden sie Kathedralen bauen und dafür Rosenkränze und Chorgesänge erwarten. Das ist und bleibt eine meiner intensivsten Erinnerungen.
Warum musste ich zwei Trimester bei Mrs. Scott bleiben? Wahrscheinlich funktionierte bereits das Tabu, das einem verbot, aus der Schule zu plaudern.
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