Unter der Haut (German Edition)
die Farm verließ, lebten noch welche in den Ayreshire Hills. Manchmal rief ein Farmer an, um zu berichten, dass ein Leopard ein Tier erbeutet habe. Und es gab Pythons, die sich gern an Kälber heranmachten. Die Rinder waren zwar wilde, ungebändigte Tiere, die nichts mit den gemütlichen, zahmen Kühen in England gemein hatten, aber sie mussten nachts in Sicherheit gebracht werden. Außerdem mussten die Kühe morgens gemolken werden. Eine Kuh reichte nicht aus für uns – die Afrikaanderrinder waren zu dünn und langbeinig. Für unseren Haushalt brauchten wir die Milch von fünf bis sechs Kühen. Man erzählte uns von den wunderbaren englischen Kühen, deren Euter bis auf die Erde hingen, sodass die Milch von einer Kuh gleich für mehrere Haushalte reichte. Dieses ständige Gerede vom paradiesischen Leben im Überfluss … man kann Geschichten aus fernen Ländern so hören, dass man von ihnen unberührt bleibt. Dieses England, von dem sie redeten, das viele grüne Gras und die Frühlingsblumen und die Kühe, die so zutraulich waren wie Katzen – was hatte das alles mit mir zu tun?
Dann bekamen die Kinder ihr Abendbrot. Eier und Brot und Butter und einen Nachtisch. »Aufessen!« »Aber ich will nicht mehr.« »Natürlich musst du aufessen.« »Ich habe keinen Hunger.« »Natürlich hast du Hunger.«
Als ich in die erste Schule kam, konnte ich schon lesen – ja, wie lange schon? – wenn ich in Zeiträumen denke, die so dehnbar sind wie Traumzeit? Immerhin weiß ich, dass von dem Moment an, als ich laut jubelnd c-i-g-a-r-e-t-t-e auf der Packung entzifferte, kaum Zeit verging, bis ich die leichteren Stücke in den Büchern aus dem schweren Bücherschrank las, in dem die Klassiker standen. Die damaligen Klassiker, lauter dicke rote Lederbände mit hauchdünnen Seiten und Goldschnitt. Scott. Stevenson. Kipling. Lambs
Das Shakespeare-Geschichtenbuch.
Dickens. Während ich gemütlich unter dem Vordach des Lagerhauses hockte, unter mir ein Bett aus rutschigen Säcken, die süß nach Maismehl und streng nach Katzen rochen, pflügte ich mich im Eiltempo durch Kiplings
Schlichte Geschichten aus Indien
, indem ich gut die Hälfte übersprang, verschlang
Das Dschungelbuch
und
Oliver Twist
, indem ich großzügig lange Passagen ausließ, und las, da ich gesehen hatte, wie meine Eltern dabei Tränen lachten, mit allem Respekt, der einem Verfasser gebührte, der zwei Jahre älter war als ich,
The Young Visitors
, wobei ich bei Wörtern wie
mousetache
schwer ins Grübeln kam. Mouse-ache? Wo kam das »t« her, und wieso hatte die Maus, denn um eine solche handelte es sich doch wohl, Schmerzen, »ache«? Es war nicht einfach, sich in die rätselhafte Welt der Erwachsenen einzufühlen.
There is a green hill far away without a city wall …
Ein grüner Hügel
ohne
Stadtmauern? Warum wird das im Choral ausdrücklich gesagt? Rätsel über Rätsel, aber vor allem Entdeckungsfreude, das Vergnügen, das unendliche Vergnügen an Büchern, das mich nie verlassen hat. Ich las nicht nur Bücher für Erwachsene. Wir bekamen Kinderbücher und Illustrierte für Kinder aus London. Wenn ein Verleger heute auf die Idee käme, eine Illustrierte vom Niveau des
Merry-Go-Round
herauszubringen, mit Autoren wie Walter De la Mare, Laurence Binyon und Eleanor Farjeon, müsste die gleich wieder eingehen? »Ja, wissen Sie, das Fernsehen …« Und die
Children’s Newspaper
mit Berichten aus Ägypten und Mesopotamien und von den archäologischen Funden in den Gräbern Tutenchamuns und Nofretetes? Aber so etwas kommt heute im Kinderprogramm im Fernsehen. Damals wie heute sollten Kinder vor den schrecklichen Dingen bewahrt werden, und auch damals gelang das nicht, weil die Stimmen den lieben langen Tag unablässig redeten, von Schützengräben, Bomben, Leuchtkugeln, Granatsplittern und -trichtern, von Männern, die in Granattrichtern ertranken, und von Schlamm, der Pferde mitsamt den Reitern verschluckte. Von den Verwundeten im Royal Free Hospital, den Männern, deren Lungen voll Gas waren, von Mutters jungem Arzt, der im Meer ertrunken war, von Stacheldraht, Niemandsland, den Engeln von Mons, den Feldlazaretten, den Männern, die wegen »Feigheit« hingerichtet wurden, und so weiter und so fort, die Stimmen von Vater, Mutter und vielen unserer Nachbarn. Was nützt es, die
Children’s Newspaper
und das
Merry-Go-Round
von alledem frei zu halten, wenn die Nachrichten die Wahrheit sagen und die Erwachsenen reden, reden, reden, über das, was immer das
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