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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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dabei den zunächst endlos langen Tag zu einer Art Bilderbuch reduzierte, das ich immer schneller und schneller durchblätterte. Dieses Verfahren nimmt nicht nur die Bedrohung, es verkürzt auch den Tag. Ich lernte auf diese Weise, die Zeit zu straffen – nein, natürlich schlichen sich die Tage immer noch dahin, das blieb noch viele Jahre so, aber ich konnte nebenbei einen Tag auf wenige Ereignisse reduzieren. Wie so viele habe ich zeitlebens gelegentlich Albträume gehabt, als Erwachsene allerdings nur noch ganz selten. Die schlimmsten Jahre waren die, als ich sieben, acht, neun, zehn war. Wer weiß, vielleicht auch noch früher.
    Der andere Strang oder das andere Motiv oder – nein, diese Begriffe vermitteln ein Gefühl der Kontinuität, und ich will hier die besonderen Momente hervorheben, die Augenblicke, in denen man lebendig ist und wach, als wäre man, ohne zu wissen, woher, unerwartet von einer Substanz erfüllt worden, die einem die Fähigkeit schenkt, klar zu sehen.
    Einer dieser »Augenblicke« wird für alle stehen müssen.
    Ich trete oben am Haus aus dem Busch, wo ich alleine war, und bleibe stehen, als ich meine Eltern nebeneinander auf zwei Stühlen vor dem Haus sitzen sehe. Aus irgendeinem Grunde, vielleicht infolge meiner Gedanken im Busch, sehe ich sie ganz klar, aber mit dem Blick eines Kindes, als zwei alte Leute, grau und müde. Sie sind noch keine fünfzig. Die beiden alten Gesichter sind ängstlich, angespannt, sorgenvoll, höchstwahrscheinlich wegen irgendwelcher Geldgeschichten. Sie sitzen in Wolken von Zigarettenrauch, und sie inhalieren den Rauch und stoßen ihn langsam aus, als würde sie jeder Atemzug berauschen. Da sitzen sie zusammen,
sitzen zusammen fest
, durch ihre Armut und – viel schlimmer noch – durch verborgene und unzulässige Bedürfnisse, die tief in ihrer so unterschiedlichen Vergangenheit begründet liegen. Ich empfinde sie als unerträglich, erbärmlich, unzumutbar; was ich nicht ertragen kann, ist ihre Hilflosigkeit. Ich stehe da, ein böses, unversöhnliches, unerbittliches Kind, das stumm sagt: Ich will nicht. Ich nicht. Ich werde nicht so werden wie sie. Ich werde nie so sein. Ich werde nie irgendwo sitzen und mir ekelhaften Rauch in die Lungen pumpen und Zigaretten zwischen orange gefärbten Fingern halten. Vergiss diesen Moment nicht. Behalte ihn für immer im Gedächtnis. Du darfst ihn nicht vergessen.
Werde nicht so wie sie.
    Und das hieß, lass dich nie zur Gefangenen machen. Mit anderen Worten, ich war entschlossen, mich gegen das menschliche Schicksal aufzulehnen, mich nicht von Zwängen unterwerfen zu lassen.
    Solche Momente gab es in meiner Kindheit immer wieder, und sie haben mich im Leben am stärksten beeinflusst.
    So werde ich
nicht.
Nie und nimmer.
    Und nun zu Themen aus der Klosterschule. Zuerst muss das Essen erwähnt werden, denn wie soll man vom Internat berichten, ohne auf das einzugehen, was Kinder am meisten beschäftigt? Das Essen war tatsächlich besser als das sonst in Schulen übliche, aber wir mochten es trotzdem nicht, es war zu schwer und fett und ungewohnt. Es handelte sich um die damals typische deutsche Kost vom Lande. Wir bekamen dicke, mehlige Suppen, die nach Kümmel schmeckten, und mussten uns häufig hinterher übergeben. Es gab mit fettigen Brotkrumen paniertes Fleisch und schwere Fleischragouts mit Klößen. Wenn die Küchenschwestern uns zu den vielen Feiertagen etwas Besonderes kochten, gab es fast immer ölgetränkte Pfannkuchen, in die kleine, fettige Papierröllchen mit winzigen Devotionalien wie Rosenkränzen oder Kreuzchen eingewickelt waren. Es gab nie Obst oder Salat, und als Gemüse bekamen wir nur völlig verkochte Kartoffeln und Kohl, der ebenfalls nach Kümmel schmeckte. Nach heutigen Vorstellungen ist das eine denkbar schlechte Ernährung. Wir haben sie überlebt. Gleichzeitig schimpften die Nonnen bei jeder Mahlzeit mit uns, weil wir so verschwenderisch und achtlos mit den guten Gaben Gottes umgingen. Heute weiß ich: Wenn ihre Stimmen häufig so weinerlich klangen, lag das daran, dass das Essen für sie eine besondere Bedeutung hatte. Sie stammten alle aus Familien, in denen Hunger herrschte, und als ich aus der Klosterschule entlassen wurde, waren die Zustände in Deutschland durch die Wirtschaftskrise noch katastrophaler geworden. Überall dort gab es Suppenküchen, lange Schlangen und Krawalle vor Nahrungsmittelausgabestellen, und hier saßen diese undankbaren, bösen kleinen Kinder … Tigger

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