Unter der Haut (German Edition)
weiterführenden Schule waren. Als ich meinen Bruder vor seinem Tod fragte, ob er sich daran erinnere, wie sehr Dick und er mir damals zugesetzt hatten, war er überrascht und bestürzt. Das Schlimmste war der Verrat: Tage-, ja wochen- oder monatelang waren er und ich Freunde, ohne dass jemals die Rede davon war, dass ich ein Mädchen oder minderwertig sei, und in dem Moment, da ein zweiter Junge aufkreuzte, war es aus, und er wurde mein Feind. Für ihn war das normal. Sein Verhalten wird keine Frau überraschen, die mit einem Mann verheiratet ist oder zusammenlebt, der auf einer solchen Schule war.
Ich habe eine Erinnerung, eine mir ganz besonders teure Erinnerung … weil ich wusste, wie wenig mein kleiner Bruder und ich gemeinsam hatten, fragte ich mich jahrelang, ob er sich wohl an diesen Tag erinnerte, aber wie sich herausstellte, wusste er nichts mehr davon. Es ist schon merkwürdig, wenn man an einer Erinnerung festhält, an der ein anderer so lebendig teilhat, und dann erfahren muss, dass ebendieser sich an nichts, an gar nichts mehr erinnert.
Wir wussten, dass Antilopen die heißen Mittagsstunden gerne im Schatten von Termitenbauten im dichten Unterholz verbringen. Vorsichtig, ohne auf Zweige oder Laub zu treten, schlichen wir zusammen zu einem Termitenhügel, an dem, wie deutlich zu sehen war, ein Tier gelegen hatte. Platt getretenes Gras, eine glatte Bruchstelle an einem Stein, von dem ein Huf ein Stück abgesplittert hatte, frischer Kot. Wir fanden einen hohen, durch eine Wand aus Zweigen geschützten Platz auf einem Felsen. Beim Hinaufklettern waren wir vorsichtig, da sich Schlangen gern solche Stellen suchten. Wir warteten. Es war gegen sechs Uhr morgens, die Sonne war gerade aufgegangen. Nicht einfach für Neun- oder Zehnjährige – älter können wir nicht gewesen sein –, völlig bewegungslos auszuharren. Mein Bruder vertrieb sich die Zeit, indem er Taubenrufe nachahmte. Sie kamen angeflogen und setzten sich über uns in die Zweige, legten die Köpfe schräg, sahen uns an, konnten keine andere Taube entdecken und flogen wieder davon. Wir hörten ein Rascheln, und da war er. Ein Kudubock suchte sich langsam seinen Weg durch das Farngestrüpp und das Gestein. Er blieb stehen und schaute sich unruhig um. Er wusste, dass etwas nicht in Ordnung war, drehte die riesigen geschraubten Hörner, sah sich über die Schulter um, wo die Sonne auf seinem Fell glitzerte. Wir konnten die blanken dunklen Augen sehen, die dunklen Wimpern … wir atmeten kaum und saßen ganz steif, um ja kein Geräusch zu machen. Das Tier blieb noch gut eine oder zwei Minuten nervös und unglücklich stehen. Wir hatten noch nie einen lebendigen Kudu aus solcher Nähe gesehen – Kadaver, die man uns zum Häuten und Zerlegen nach Hause gebracht hatte, schon. Wir machten keinen Fehler, abgesehen davon, dass wir Menschenkinder am falschen Ort waren und wahrscheinlich Signale aussandten, von denen wir nichts wussten. Der Kudu stand da, drehte sich um, schaute den Weg entlang, den er gekommen war, und wandte sich erneut in unsere Richtung. Wir sahen, wie das Leben des Tieres durch die ständige Bedrohung geprägt war, die ständige Ausschau nach Feinden, die dauernde Wachsamkeit, das Lauschen, bei dem er den Kopf hierhin und dorthin drehte. Aber da stand er vor uns, voll ausgewachsen, er hatte überlebt und wurde auch von uns nicht bedroht, weil wir kein Gewehr dabeihatten. Es verging lange Zeit, so kam es uns zumindest vor, während wir warteten und das Tier lauschte und guckte. Sah es uns an? Ja, aber was sah es da? Sein Blick wanderte weiter. Und dann – ja, was dann? Ein Windhauch aus einer anderen Richtung? Oder hatten wir versehentlich doch ein Geräusch gemacht? Dann machte der Kudu kehrt und lief den Termitenhügel hinab, nicht in Todesangst, denn das laute Krachen, mit dem eine aufgeschreckte Antilope durch das Unterholz jagt, kannten wir gut, aber doch in Eile, nur schnell fort von diesem gefährlichen Ort, von dem Termitenhügel, an dem irgendeine Gefahr lauerte, auch wenn ihm nicht klar war, welche.
Der Kudu, das war ein Tag, ein Erlebnis, eine Erinnerung, aber es gibt Erinnerungen, die setzen sich aus vielen Tagen zusammen, manchmal aus Hunderten von Tagen. Geräusche, die Geräusche der Zeit, die man für gegeben hinnahm … Mein Bruder und ich gingen oft zu der Stelle, wo die Telefonleitungen von der Mine in Mandora hinab über ein Stück Grasland bis an unser großes Feld führten, und weiter am Rand entlang den
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