Unter der Haut (German Edition)
unterhielt ihre Eltern mit Geschichten über das Essen, bis sie Tränen lachten.
In jenen Jahren kamen die ersten Tonfilme, und obwohl die Nonnen gar nichts davon hielten, bestanden die Eltern darauf, dass ihre Töchter von allem das Beste mitbekamen, und so zogen wir in langen Zweierreihen mit unseren braunen Alpakakitteln und gelben Blusen, mit unseren Panamahüten und den gelb-braunen Bändern der Klosterschule in das Filmtheater. Wir sahen
Rio Rita.
Wir sahen Al Jolsons
Sonny Boy.
Von Zeit zu Zeit lese ich bei Experten, dass Kinder von dem, was sie in Filmen sehen, angeblich nicht beeinflusst werden. Nach
Rio Rita
verloren sich Dutzende kleiner Mädchen wochenlang in Liebesfantasien, in denen sie John Boles mit seinem Oberlippenbärtchen in den Armen hielten. Nach Al Jolson verstärkte die Vorstellung von kranken und sterbenden Babys das höchst melancholische Vergnügen an den Bestattungen der Nonnen. Damals gab es noch nicht die Gewaltfilme, mit denen Kinder heute groß werden, doch wenn wir irgendetwas Vergleichbares gesehen hätten, hätten wir uns zweifelsohne ausgemalt, mit welchen Methoden die Höllenfeuernonne umzubringen gewesen wäre. Ich bin sicher, dass ich diese Frau bei entsprechender Gelegenheit – und mit den Kenntnissen darüber, wie man bei so etwas zu Werke geht – umgebracht hätte, und zwar mit dem Gefühl, dass sie es nicht anders »verdient« hatte, weil sie schließlich der Inbegriff von Grausamkeit und Mord war. Ich glaube, Orwell war es, der gesagt hat, dass Intellektuelle zu besonderer Dummheit fähig seien, und damit meinte er genau das: eine Form findiger Dummheit, die aus logischem Denken erwächst und von Erfahrung unberührt ist.
Auch der Jazz erreichte uns. Jazz auf einem kleinen, tragbaren Kurbelgrammophon, das im Refektorium auf den Tisch gestellt wurde. So wurde ich zum ersten Mal mit der zweiteinflussreichsten Kraft unserer Zeit konfrontiert.
Blue skies smiling at me,
Nothing but blue skies do I see.
Die Melodie ist so traurig, dass ich jahrelang dachte, sie sänge nicht vom blauen, sondern von grauem Himmel.
Red sails in the sunset
Red sails on the sea
So, so traurig.
Die vielen durch den Refektoriumsgarten flutenden Emotionen verarbeitete ich zu einem Einakter im Stile Shakespeares, in dem sich lauter Könige und Königinnen bekriegten und von dem die Nonnen sagten, dafür sei ich noch nicht groß genug. Außerdem schrieb ich ein ganz kleines Stück, nicht mehr als einen Absatz lang, über das Echo, von dem sich bei näherer Prüfung herausstellte, dass es »nur ein müder Junge war, der sich auf den Felsen ausruhte«. Das, woran ich mich dabei erinnere, ist die wohlig tiefe Traurigkeit, das Selbstempfinden jenes »müden Jungen«. Meine Mutter sagte zu diesem Stück, ich sei dafür noch zu klein. Da fragt man sich doch: Wenn ich für geraffte Fassungen feudaler Epen und den »müden Jungen« zu klein war, warum waren wir dann nicht zu klein für Bebe Daniels in den Armen von John Boles und die dicken Krokodilstränen auf Al Jolsons Wangen?
Ich war jetzt zehn Jahre alt und ein großes Mädchen, dem jede Menge Krisen bevorstanden, nicht zuletzt eine Prüfung, auf die ich durch Einzelunterricht vorbereitet wurde, weil ich so viel gefehlt hatte. Ich schlief jetzt im Schlafsaal für die großen Mädchen, nicht mehr in dem Riesensaal mit den vierundzwanzig Betten und den blutrünstigen Bildern. Der Schlafsaal für die Großen lag im alten Teil des Klosters, mit dem wir alles Düstere und Antike verbanden, wobei Gespenster noch das geringste Übel waren. Die Räume waren ziemlich klein, und jedes Bett war mit einem Vorhang ausgestattet, sodass, wie in den Nonnenzimmern, an jedem Bettende lange, weiße Schemen standen. Diese weißen Baumwollvorhänge sollten nach dem Schlafengehen zugezogen werden. Die Katholikinnen unter uns mussten zum Schlafen die Hände über der Bettdecke verschränken, auf den Lippen die Worte: »Heilige Mutter Maria, wenn es dein Wille ist, dass ich im Schlaf sterbe, nimm meine Seele …«, und so weiter.
Schon bevor wir abends im Schlafsaal ankamen, packte uns die Angst. Wir malten uns alle möglichen Gespenster aus, tote Nonnen, tote Mitschülerinnen und … Was hatten die Iden des März mit einem Kloster mitten in Afrika zu tun? Was wir einfach nicht ignorieren konnten, waren die Worte, das Murmeln und Raunen unter den Schleiern. Zu dieser Zeit bin ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben geschlafwandelt. Die Waschräume lagen eine
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