Unter der Haut (German Edition)
überschüttete mich mit Vorwürfen. Damit begann ich meine Mutter abzulehnen, so total, als wäre eine Tür zugeschlagen worden. Sie rief mich zu sich nach draußen, stellte ihren Stuhl so, dass sie mir direkt gegenübersaß, und hielt mir einen Vortrag zur Geschichte der Untaten der katholischen Kirche. Die Inquisition war dabei die schlimmste, aber es wurden auch noch jede Menge weiterer Verbrechen aufgezählt, unter anderem die Methoden, mit denen die katholischen Missionare die Afrikaner in ihren Schulen bekehrten. An diesem Punkt hörte ich genau hin, und Ekel überkam mich, als ich mir plötzlich der Unlogik be- wusst wurde, die sich hier unter dem Deckmantel der Tugend verbarg. Ich verlor meinen Glauben von einem Augenblick zum anderen; der Himmel entfloh auf den Flügeln der Vernunft, als ich entgegnete, dass alles, was sie gesagt habe, auch für die Protestanten gelte, die Katholiken genauso auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätten wie umgekehrt. Die in braunes Packpapier eingeschlagenen Bücher in der Klosterbibliothek enthielten nicht nur abschreckende Geschichten über die Gefahren der schwarzen Magie, sondern auch geschichtliche Abhandlungen über protestantische Verfehlungen. Ich war zur Atheistin geworden, was zunächst hieß, dass ich den Konflikt ausgestanden hatte, als protestantisches Kind auf einer katholischen Schule zu sein, und mir von beiden Elternteilen nicht mehr die Fragen anhören musste, ob mich die Katholiken »gekriegt« hätten. Außerdem war meine schmerzvolle Liebe zur Jungfrau Maria mit ihrem süßen, gleichgültigen Lächeln nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Kaum hatte ich verkündet, dass ich Atheistin sei, fand ich tausend Verbündete, denn damals war man als Atheist ernst und rechtschaffen, um nicht zu sagen selbstgerecht, genau wie die Gläubigen. Ich war die Erbin aller Tugenden der Aufklärung – auch wenn mir das damals nicht bewusst war – und machte mich, gerade so, als wäre es mir doch bewusst, guten Gewissens daran, die Gläubigen ihrer geistigen Schwäche und moralischen Feigheit wegen zu verachten.
Sie hätten mich am liebsten gleich von der Klosterschule genommen, wenn da nicht das Stipendium und die anstehende Prüfung gewesen wären, und so fuhr ich wieder hin, nur um wenig später durch die Läuse und die Scherpilzflechte gerettet zu werden, denn die zählten mehr als die seelische Bedrohung.
Klosterschule, ade! Nonnen, ade. Kein Examen mehr, das ich bestehen musste. Ade, ade. Die vier langen Jahre rollten sich zusammen und wurden in meinem Kopf in einem Regal mit dem Etikett »Klosterschule« abgelegt, ein Ort, zu dem ich außer in meinen Träumen jahrelang nicht zurückkehrte, denn dort lauerten nur Kummer, Leid und stets das beklommene Unvermögen zu glauben, dass sich diese grauen Ewigkeiten mit den Worten »vier Jahre« umschreiben ließen.
Wie wäre es doch praktisch, wenn ich jetzt sagen könnte: Das war’s, die innigen Gefühle für meine Eltern endeten, als ich vorzeitig in die Pubertät eintrat. Nein, was dann kam, war die Ruhr, und wer sie nie gehabt hat, kann sich nicht vorstellen, wie heftig und qualvoll die Koliken sind, als ob man von scharfen Schnäbeln gebissen oder einem der Arm umgedreht wird. Mein kleiner Bruder hatte die Ruhr und lag kreischend zusammengekrümmt im Bett. Mein Vater machte sie stoisch durch, wie es sich für einen alten Soldaten gehört. Ich hatte sie, und meine Mutter hatte sie auch, aber sie pflegte uns weiter und sprach nicht von ihren Leiden. Als ich auf dem Wege der Besserung war, aber noch schwach und weinerlich, bettelte ich: »Komm mit mir kuscheln, komm mit mir kuscheln.« Sie hatte das Kind lieb in den Armen gehalten, als es sich vor Schmerzen wand, aber jetzt wurde die erschöpfte Frau alle paar Minuten gerufen. Sie legte sich vorsichtig hin, streckte einen Arm so aus, dass ich meinen Kopf darauflegen konnte, sagte: »Ach, herrje, was für ein Theater«, und schlief ein. Ich atmete kaum und dachte: Vielleicht, wenn sie aufwacht … aber da ich nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt lag, sah ich, wie sehr ihr Gesicht von Leid und Sorgen gezeichnet war. Und als ich sie das nächste Mal rief: »Komm mit mir kuscheln«, hörte ich, wie sie aufstöhnte und mich leise spöttisch nachahmte: »Oh, oh, komm mit mir kuscheln.« Tigger machte das Echo, um das Flehen des kranken Kindes ins Lächerliche zu ziehen. »Komm mit mir kuscheln« wurde ins Repertoire der Familienwitze aufgenommen und bewahrte
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