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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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steile Treppe tiefer als die Schlafsäle, und ich wachte auf, als ich versuchte, auf die Waschbecken zu klettern, weil ich sie für ein Bett hielt. Ich eilte im Dunkeln die Treppe hinauf zurück in den dunklen Schlafsaal, in dem sich weiß schimmernde, gespensterhafte Gestalten zu bewegen schienen.
    Meine Mutter schrieb mir mit jeder Post, wie gut ich die Prüfung zu machen hätte – die Aufnahmeprüfung zur Oberschule –, und bearbeitete auch meine Tutorin mit Briefen und Telefonaten. »Tigger« hatte die Sache im Griff, und ich spielte in den Stunden mit Mrs. Baxter (glaube ich) den Clown und war keck und »schlau«. Sie war ein Frauentyp, der mir im Leben noch häufiger begegnet ist: eine robuste, sommersprossige Blondine, die mich wahrscheinlich an eine liebevolle Person aus der frühen Kindheit erinnert hat, an die Dänin Mrs. Taylor. Auf die sorgenvollen, fast wirren Briefe meiner Mutter schrieb ich lustige, »geistreiche« Antworten.
    Und dann kam die Erlösung, wir bekamen Scherpilzflechte, alle. Beine und Arme waren mit juckenden roten Kreisen übersät. Dann bekamen wir Kopfläuse – und zwar alle, die wir bei den »Großen« schliefen. Überall aus dem Mashonaland eilten die Eltern herbei, um die Mädchen von der Schule zu holen. Mich auch. Läuse auf dem Kopf ihrer Tochter! Für meine Mutter war das die schlimmste erdenkliche Schmach. Als Krankenschwester hatte sie mit Kindern aus den Elendsvierteln zu tun gehabt, deren Haar von Läusen befallen war. Sie wusste, dass Läuse durch Armut und Schmutz gediehen. Auf meinem Kopf wimmelte es davon. Wenn ich mein Haar im Spiegel betrachtete, konnte ich sehen, wie es sich bewegte, und morgens krabbelten sie auf dem Kissen.
    Meine Läuse wurden mit Paraffinöl vertrieben, nach der Methode, die meine Mutter in den Slums von Whitechapel angewendet hatte. Man kämmt das Haar mit Paraffin durch, umwickelt es dann fest mit einem Handtuch, und im Nu sind die Läuse verschwunden. Paraffin macht das Haar außerdem dick und glänzend.
    Diese Schmutz- und Ungezieferkrise folgte unmittelbar auf eine wesentlich ernstere Begebenheit. Ich war plötzlich zum Katholizismus konvertiert. Alle protestantischen Mädchen waren sich bewusst, dass ihnen das jederzeit passieren konnte: Die anglikanische Kirche mit ihren heilsamen, schlichten Sitten konnte mit den gespenstischen Nonnen, dem Weihwasser, den Glocken, der Jungfrau Maria und den Besuchen der Priester von der St. George’s School für Jungen, vor denen die Nonnen zu aufgeregten kleinen Mädchen wurden, wenn sie ihnen salbungsvoll ihre dick beringten Männerhände zum Handkuss hinhielten, einfach nicht konkurrieren. Die Nonnen knicksten vor den Priestern und erröteten, und wir kleinen Mädchen – auch die protestantischen, die so lange gebettelt hatten, bis sie dabei sein durften – wurden hinterher rot und kicherten.
    Meine Bekehrung erfolgte überraschend und total. Jedenfalls könnte man sie überraschend nennen, wenn man vom Ringeküssen und von der Herrlichkeit von Weihrauch und hohen Singstimmen absähe. Und von Schwester Antonias liebevoller Güte, denn heute ist mir klar, dass ich mich nicht von der anglikanischen Kirche ab- und dem Katholizismus zuwandte, sondern von Schwester Antonia zur Jungfrau Maria weiterging. Ich verbrachte jede freie Minute in der katholischen Kirche gleich an der Straße, die für mich damals ein hoher schattiger Ort voller Mysterien war, wo sich aber vor allem eine Statue der Jungfrau Maria befand, und dort kniete ich nieder und flehte sie an, meine Liebe anzunehmen, und versuchte mir einzureden, dass ich sie lächeln sah. Es gelang mir – fast. In meiner Blazertasche hatte ich ein Arzneifläschchen mit Weihwasser, und ich gab mir Mühe, mich jedes Mal zu bekreuzigen, wenn ich am Herz-Jesu-Bild oder an einem Bild oder einer Statue der Jungfrau Maria vorbeikam. Die Fiebrigkeit dieser Zeit war dem Verliebtsein ähnlich und mir wohlvertraut, aber es war der Himmel, der mich umschwebte, meine Gedanken verschleierte und mich dumm machte. Die Nonnen sahen das Weihwasser in meiner Tasche und fragten besorgt, ob ich meinen Eltern bitte sagen würde, dass man keinen Druck auf mich ausgeübt habe. Das erschien mir unsinnig. Wenn uns die Wahrheit umgab, unwiderlegbar in Statuen, Bildern, Weihwasser, wie konnten sie dann sagen, dass kein Druck ausgeübt worden sei?
    Ich fuhr in den Ferien nach Hause, meine Mutter fand das Weihwasser und den Rosenkranz unter meinem Kissen, explodierte und

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