Unter der Haut (Hauptkommissar Leng ermittelt) (German Edition)
hatten.
„Diese Befragung ging mir gegen Ende auf die Nerven“, antwortete Leng zornig, wobei sein Gesicht von einer feinen Röte überzogen war. „Keiner will etwas sagen, keiner weiß etwas, keiner hat ein Alibi. Wir müssen die Wahrheit woanders finden. Hier kommen wir im Moment keinen Schritt voran.“
11
Die Sonne stand schon tief, als er oben auf dem Hügel ankam. Über die Bahngleise schaute er auf die gegenüber liegenden Häuser, deren Scheiben die gleißenden Strahlen der Sonne reflektierten. Für einen kurzen Moment war er geblendet. Hinter den Häusern lag der Seerosenteich, wo sie Walter Burghausens Leiche gefunden hatten. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis sie seinen Mörder fassten?
Er musste an den Brief denken, den er gestern in seinem Postkasten gefunden hatte, versehen mit dem Poststempel vom Donnerstagabend. Wie eindringlich die Worte geklungen hatten, Worte, die ihn überzeugt und ihm endgültig klar gemacht hatten, wie blind er all die Jahre über gewesen war, die Augen fest verschlossen vor der Wahrheit. Er hatte ge-glaubt, was er glauben wollte.
Er setzte sich auf eine Bank, beugte sich nach vorn, wobei er die Ellbogen auf seine Knie stützte und dachte nach. Sollte er der Polizei einen Tipp geben? Aber welchen Beweis hätte er schon liefern können? Vielleicht war die Tat nach all den Jahren ohnehin verjährt.
Ein Rascheln ließ ihn aufblicken, ein Rascheln, verursacht durch blattlose Zweige eines Strauches, die jemand beiseite geschoben hatte. Ein Mann, der etwa so alt aussah wie er selbst, mit dunklem Bart und kurz geschnittenem Haarkranz, blieb vor ihm stehen. Der Reißverschluss der Jeans, an dem der andere herum fingerte, befand sich etwa in Höhe seines Mundes. Er blickte auf und gab dem Mann zu verstehen, dass er nicht interessiert war. Nicht heute.
„Fick dich selber“, hörte er sein Gegenüber ärgerlich sagen, bevor es wieder im Gebüsch verschwand.
Wie oft hatte er in den vergangenen Sommern diesen Hügel bestiegen? Ein Dutzend Mal? Zwei Dutzend? Er konnte es nicht einmal genau sagen, weil nicht eine einzige der Begegnungen wirklich erinnerungswürdig gewesen war, weder die mit dem Sockenfetischisten, der bei 30° C völlig nackt vor ihm stand, bis auf die erwähnte Fußbekleidung, noch die mit dem beleibten Operntenor, der um eine Natursektdusche bat, ein Wunsch, der unerfüllt blieb und schon gar nicht die mit dem dürren Spinner, der von ihm verlangte, ein Hahnenkammkondom überzustülpen. Am ehesten erinnerte er sich dann schon an den Studenten aus Livorno, der sich partout nicht von seinem Rucksack trennen wollte. Nachdem er sich all seiner Kleidungsstücke entledigt, sie akkurat zusammen gefaltet und dann in besagtem Rucksack verstaut hatte, kniete er auf allen Vieren hingebungsvoll im Gras, aufnahmebereit wie kaum ein anderer vor ihm.
In Gedanken an den Italiener fasste er sich automatisch ans Kinn, genau an die Stelle, die durch eine der Rucksackschnallen verletzt worden war, als die Kopulation ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, ein blutiger, aber nicht bleibender Schaden für ungefähr eine Woche.
Oft hatte er nicht einmal ihre Gesichter richtig gesehen, auch nicht sehen wollen, denn es war ja gerade die Illusion, die den Zauber dieses Hügels ausmach te. In der Dunkelheit, verborgen hinter Büschen, katapultierte man sich in eine andere Welt, in eine Welt der Libido und der Exotik. Und wie leicht es dann war, sich im schwachen Licht, welches vom Mediapark herüber schien, sich sein Gegenüber als Traumprinzen vorzustellen. Da wurde aus dem durchschnittlichen Angestellten mit der dunklen Hornbrille der Dramatiker Arthur Miller, der einen Hauch von Hollywood mitbrachte; der etwas dickliche Blondschopf, dessen Füße zu lange in seinen Turnschuhen gesteckt hatten und dementsprechend auch so rochen, ging glatt als Brad Pitt durch und der hoch aufgeschossene Musikmanager mit dem schlaffen Gesicht, aber einer äußerst angenehmen Stimme, verwandelte sich mühelos in Tim Bergmann, den großen Frauenversteher des deutschen Films.
In Gedanken noch immer mit dem Italiener beschäftigt, von dem er mittlerweile annahm, ihn gar nicht hier, sondern weiter südlich in den Büschen des Aachener Weihers getroffen zu haben, nahm er die Gestalt in dem Zorro-Kostüm zuerst nicht wahr, und als er es schließlich tat, schenkte er ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Vier Tage vor der Eröffnung des Straßenkarnevals liefen Tausende von Maskierten durch die Stadt. Doch
Weitere Kostenlose Bücher