Unter der Haut (Hauptkommissar Leng ermittelt) (German Edition)
nicht gerade unsere unterschiedlichen Auffassungen und Denkansätze bei der Aufklärung so manchen Falles von unschätzbarem Wert?“
„Du hast ja Recht“, musste Prado unumwunden zugeben. „Ich bin heute Morgen schon mit dem falschen Bein auf-gestanden, weil ich so einen beschissenen Traum hatte, in welchem meine Mutter von einem auf den anderen Tag nicht mehr wusste, wer sie ist. Normalerweise gebe ich nicht so viel auf Träume, aber ich denke schon, dass mir dieser meine Ängste widergespiegelt hat.“
„Hat deine Mutter denn so stark abgebaut?“
„Jedenfalls deutlich mehr als mein Vater. Sie scheint an vielen Dingen das Interesse verloren zu haben. Sie redet nur noch über sich, ihre Schmerzen, ihre Überforderung, ihre Sicht der Dinge. Mein Vater geht rührend mir ihr um, versucht sie zu ermutigen und ihr soviel Arbeit wie möglich abzunehmen, aber ich sehe, wie sehr ihn das anstrengt.“
„Gibt es denn niemanden, der sie im Haushalt unterstützen könnte?“
„Sie haben ja eine Putzfrau, die zweimal wöchentlich kommt, aber das Einkaufen und das Kochen möchte mein Vater noch selbst erledigen. Du lieber Himmel, ich bin siebzig und nicht neunzig, sagt er immer.“
Leng wartete, ob Prado das Thema noch weiter fortführen wollte. Nachdem er den Eindruck gewonnen hatte, dass dies nicht der Fall war, knüpfte er an die Diskussion von vorher an. „Ich wollte dir von dem gravierenden Unterschied erzählen, den es meiner Meinung nach zwischen Stefanie Burghausen und einem Amokläufer gibt.“
Prado nickte.
„Wie wir inzwischen mit Sicherheit annehmen dürfen, will sie sich rächen. Dieses Motiv hat sie also mit einem Amokläufer gemeinsam. Dem Letzteren ist aber das eigene Leben egal. Entweder er erschießt sich nach der Tat selbst oder nimmt es in Kauf, von der Polizei erschossen zu werden. Sein Leben bedeutet ihm nicht viel. In seiner Einschätzung hat sein Umfeld ihn immer als minderwertig betrachtet. Warum sollte er sich selbst dann anders sehen? Stefanie Burghausen will sich zwar rächen, aber nicht unbedingt überführt werden. Sie hat einen gut bezahlten Job, in dem sie sicherlich viel Anerkennung findet, sie ist von Hause aus nicht gerade mittellos, eher, was man eine gute Partie nennt, sieht ansprechend aus und sollte deshalb gute Aussichten haben, einen Partner zu finden.“
„Ich ahne, worauf du hinaus willst“, sagte Prado und ließ dem Satz einen Fluch folgen, der nicht so ganz zum vorher Gesagten passte, aber sofort eine Erklärung fand, als der Hauptkommissar durch die Windschutzscheibe schaute und den Stau sah, in den sie hinein fuhren. Und das mitten auf der Zoobrücke.
„Na herrlich.“ Prado brachte den Wagen zum Stehen, schaltete den Motor ab und grinste. „Nun haben wir vorerst einmal Zeit genug, unser Gespräch in Ruhe fortzusetzen.“
„Nur schade, dass weder ein Cafè noch ein Imbiss in der Nähe sind.“
Der Kommissar nahm seinen Gedanken wieder auf. „Du bist, so nehme ich jedenfalls an, davon überzeugt, dass es für Stefanie Burghausen einen Auslöser gegeben haben muss, der das Fass zum überlaufen brachte, sodass sich ihr Hass nicht mehr kompensieren ließ?“
„Vielleicht sogar zwei Auslöser, einen im Zusammenhang mit ihrem Vater und einen für Alexander Seamus.“
„Und was könnte das gewesen sein?“
Leng zog die Schultern hoch. „Solange wir sie nicht verhört und ein Geständnis von ihr haben, müssen wir uns wohl im Bereich der Vermutungen bewegen. Manchmal reicht schon eine unbedachte Äußerung, irgendeine Bemerkung, die so verletzend wirkt, dass sie eine unheilvolle Allianz eingeht mit all den alten Wunden, die sie mit sich herumträgt.“
Lengs Mobiltelefon klingelte. „Hoffentlich ist es dieses Mal keine Hiobsbotschaft“, knurrte er, bevor er den Anruf äußerst widerwillig entgegennahm. „Das kann nicht sein“, brüllte er in den Lautsprecher, dem er ein moderateres „wann?“ und „wo?“ folgen ließ.
„Offensichtlich keine guten Nachrichten“, stelle Prado fest.
„Klara Burghausen wurde auf der Rheinuferstraße vor einer halben Stunde in einen schweren Unfall verwickelt und ist schwer verletzt in die Uniklinik gebracht worden. Näheres konnte mir Brenner auch nicht sagen. Wir können froh sein, dass wir überhaupt so schnell informiert worden sind; aber einem der Verkehrspolizisten kam der Name so bekannt vor, bis ihm schließlich einfiel, dass er ihn im Zusammenhang mit einem Mord in der Zeitung gelesen hatte. Das veranlasste
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