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Unter die Haut: Roman (German Edition)

Unter die Haut: Roman (German Edition)

Titel: Unter die Haut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Andersen
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den anderen Ärzten als ebenbürtige Kollegin behandelt zu werden.
    Über die Jahre hinweg hatte sie ihre Kompetenz immer wieder unter Beweis gestellt, vor sich selbst, vor anderen. Doch sie war nie ganz das Gefühl losgeworden, immer noch nicht für voll genommen zu werden. Seit Jahren stand das Kürzel M.D. hinter ihrem Namen, aber es hatte ihr an wirklicher Autorität gefehlt. Sie hatte sich stets vor dem einen oder anderen Vorgesetzten rechtfertigen müssen: Stationsarzt, Oberarzt, Personalchef, irgendwem. Jede Diagnose, jede Behandlung hatte sie bis ins kleinste Detail begründen müssen. Und daran war auch nichts auszusetzen, so sollte es sein, wenn man noch in der Ausbildung war. Aber die Tatsache, dass sie jetzt von denselben Leuten, die noch vor wenigen Monaten ihre Leistungen beurteilt hatten, als richtige Ärztin betrachtet wurde, ließ sie ein überwältigendes Gefühl von Unabhängigkeit empfinden. Sie stand kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag, und endlich hatte sie das Ziel erreicht, auf das sie so lange hingearbeitet hatte.
    Ivys Wunsch, Ärztin zu werden, war aus der Verzweiflung heraus entstanden, die sie nach dem Tod ihrer Eltern empfunden hatte. Sie waren gestorben, als sie fünfzehn war, in einer Nacht, die sich für alle Zeit unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Jahrelang war sie schreiend aus Träumen aufgewacht, in denen ihre Mutter und ihr Vater trotz aller Anstrengungen, sie festzuhalten, einen Abgrund hinunterstürzten, und Tante Babe brauchte dann jedes Mal eine Ewigkeit, um sie wieder zu beruhigen, während Jaz im Bett saß und sie mit großen Augen ansah. Sie hatte diese Alpträume schließlich überwunden, aber die Erinnerungen waren ihr geblieben und hatten ihr Leben in den folgenden Jahren entscheidend beeinflusst.
    Es waren Erinnerungen, die sie ein halbes Leben lang begleitet hatten, und sie wartete immer noch darauf, dass der Schmerz irgendwann abnahm. Im Lauf der Jahre waren sie ein wenig verblasst, aber es war einfach kein Ereignis, das man jemals vergessen konnte.
    Sie war damals ein typischer Teenager gewesen und hatte auch an diesem Abend im Grunde nur ihre eigenen Wünsche im Kopf gehabt. Zu dem Zeitpunkt, als Alison »Babe« Merrick, die Schwester ihres Vaters, gekommen war, um sie mit zu sich nach Hause zu nehmen, war sie um einiges reifer geworden.
    Ihre Erinnerungen setzten in einer kalten Winternacht auf einer Passstraße ein. Sie war mit ihren Eltern auf dem Weg nach Ellensburg, einer Universitätsstadt im Osten von Washington, um ihren Onkel und ihre Tante zu besuchen. Wenn Ivy nicht gerade herummaulte, verkroch sie sich schmollend in den Polstern des Rücksitzes.
    Sie verstand nicht, warum sie nicht bei Jaz und Onkel Mack und Tante Babe bleiben durfte. Sie hatte sie angerufen und gefragt, und sie waren damit einverstanden gewesen, aber ihre Mutter hatte nein gesagt. Das war so gemein. Sie war schon seit einer Ewigkeit in Tony Olmstead verknallt, und endlich hatte er von ihr Notiz genommen. Er war zwei Klassen über ihr – und so viel reifer als die Jungen, mit denen sie sonst zu tun hatte. Und erst vor ein paar Tagen war er an ihrem Spind stehen geblieben und hatte gefragt, ob sie Lust hätte, am Freitagabend mit ihm zum Billardspielen zu gehen. Billard – dagegen war Kino doch regelrecht langweilig.
    Mom und Dad fanden zwar, dass sie noch zu jung war, um sich mit Jungs zu verabreden, aber da sie jetzt auf die Highschool ging und stets gute Noten nach Hause brachte, erlaubten sie es ihr trotz ihrer Bedenken hin und wieder. Nicht dass die jungen Männer vor ihrer Tür Schlange gestanden und sie angefleht hätten, mit ihnen auszugehen, wie sie es bei Jasmine taten. Und dann waren die meisten, die sie kannte, auch noch einen halben Kopf kleiner als sie. Aber Tony Olmstead nicht. Und als er sie gefragt hatte, hatte sie natürlich sofort zugesagt, ihre Eltern würden sicher verstehen, wie wichtig diese Einladung war. Aber kaum hatte sie das Thema beim Abendessen zur Sprache gebracht, hatte ihre Mutter den Traum platzen lassen wie eine Seifenblase, und am nächsten Tag hatte sie Tony sagen müssen, dass sie leider nicht könnte. Sie hatte ihm auch den Grund dafür erklärt, aber wahrscheinlich würde er sich trotzdem nie wieder mit ihr verabreden.
    Sie hatte überhaupt nicht mehr an diesen blöden Ausflug nach Ellensburg gedacht, vermutlich weil sie wider besseres Wissen gehofft hatte, dass ein Wunder geschehen und er ins Wasser fallen würde. Schon

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