Unter die Haut: Roman (German Edition)
der Nähe zu bringen.
Der typische Krankenhausgeruch, den die grün gestrichenen Wände zu verströmen schienen, war zugleich tröstlich und beunruhigend. Bei dem Unfall auf dem Highway hatte es so viele Verletzte gegeben, dass man auf die Wahrung der Intimsphäre des Einzelnen verzichten musste und die Ärzte und Schwestern sich mitten im hell erleuchteten Eingangsbereich der Notaufnahme, hinter den Vorhängen der Behandlungsräume und in den angrenzenden Korridoren um sie kümmerten. Sie sonderten die Schwerverletzten aus und versorgten zuerst sie.
Ivy lag auf einer Krankenliege und wartete darauf, dass sich jemand ihres gebrochenen Arms annahm. Sie umklammerte die Hand ihrer Mutter, und beide sahen schweigend und angespannt zu, wie sich zwei Liegen weiter ein Arzt und eine Schwester mit raschen, sicheren Handgriffen um ihren Vater bemühten. Ihre Mutter strich ihr mit der freien Hand über die Haare und flüsterte ihr hin und wieder ein beruhigendes Wort zu. Ihre Berührung war das Einzige, was Ivy in einer Welt, in der nichts mehr so war wie zuvor, ein wenig Sicherheit gab. Sie betete für ihren Vater und klammerte sich an ihre Mutter, sie wollte glauben – sie hoffte -, dass alles wieder gut werden würde. Es musste einfach. Alles würde gut werden – solange nur ihre Mutter da war.
Und so konnte sie nur in stummem Entsetzen zusehen, als ihre Mutter plötzlich zusammenbrach.
Was ihr von dieser Nacht am deutlichsten im Gedächtnis haften blieb, waren die Ärzte, die sich unermüdlich um die vielen Verletzten bemühten. Sie hatten ihre Eltern nicht retten können: nicht ihre Mutter, als ihr der Bluterguss, der sich unter ihrer Schädeldecke gebildet hatte, schließlich das Gehirn abdrückte, und auch nicht ihren Vater, der zu schwere innere Verletzungen davongetragen hatte. Doch bei all dem Kummer, der Verzweiflung und den Schuldgefühlen, die sie lange Zeit quälten, vergaß sie nie, wie die Leute vom Krankenhaus bis zum letzten Augenblick um ihr Leben gekämpft hatten. Und so wurde in der Zeit nach dem Tod ihrer Eltern ihr Entschluss geboren, Ärztin zu werden.
Jaz hockte auf einem Holzschemel und sah zu, wie Terry vorsichtig den Bezug von Ivys Sessel auftrennte. »Warum reißt du ihn nicht einfach ab?«, fragte sie.
Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich will den alten Bezug als Schnittmuster für den neuen Stoff verwenden.« Er deutete mit dem Kinn auf das Paket, das auf dem Arbeitstisch lag, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Sessel zuwandte.
»Ist er das?« Sie schlug das Packpapier zurück. »Wow, sieht ja echt klasse aus!«
»Hmhm.«
»Er passt wunderbar zu Ivys neuem Sofa.« Jaz wickelte den Stoff wieder ein und saß eine Weile schweigend da. Sie musterte angelegentlich ihre Fingernägel, pulte ein Stückchen Nagellack weg, und dann fragte sie völlig unvermittelt: »Terry, glaubst du, dass ich genauso klug bin wie Ivy?« Dabei schwang in ihrer Stimme ein merkwürdig dringlicher Unterton mit.
Er hielt mitten in der Bewegung inne und hob langsam den Kopf, um sie prüfend anzusehen. Ihr Gesicht war so schön wie immer, aber jetzt hatte es zugleich etwas Maskenhaftes, das ihre wahren Gefühle verbarg. »Klar doch«, sagte er.
Sie wich seinem Blick aus. Während sie weiter den Lack von ihrem Nagel zupfte, hakte sie nach: »Klug genug, um auch Ärztin zu werden?«
»Ja, bestimmt. Wenn du das willst.«
»Tja, da liegt wohl das Problem, was?« Sie seufzte. »Ivy hat immer genau gewusst, was sie will, seit ihrer Kindheit schon. Und ich bin mir immer noch nicht darüber im Klaren.«
»Ivy ist auf ziemlich schreckliche Weise zu ihrem Entschluss gelangt.«
»Ich weiß.« Als Jaz schließlich die Augen hob, um Terry anzusehen, lag eine große Traurigkeit in ihrem Blick. »Und ich will auch gar nicht herunterspielen, wie viel sie dafür arbeiten musste, um Ärztin zu werden. Es ist nur … ich beneide sie einfach um ihre Zielstrebigkeit.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin eifersüchtig, wenn du es genau wissen willst, weil ich mir manchmal so verloren vorkomme. Ich weiß, dass ich nicht so klug bin wie sie, und es sieht auch nicht so aus, als würde ich in absehbarer Zeit heiraten und eine tolle Ehe führen wie Sherry und … ach verdammt, ich weiß ja noch nicht einmal, was ich eigentlich will.« Natürlich wusste sie es. Sie brachte es nur nicht über sich, es laut auszusprechen.
Terry wusste es ebenfalls, zog es jedoch vor, den Unwissenden zu spielen. »Was es auch ist«,
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