Unter die Haut: Roman (German Edition)
nachdem Jaz und Sherry sich verabschiedet hatten und der Abend vergangen war, ohne dass sie ein Wort von Vincent gehört hatte, hatte sie das Gefühl, die Ereignisse doch noch einmal Revue passieren lassen zu müssen.
Als sie am frühen Nachmittag aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Vincent gegangen war, hatte sie angenommen, dass er zur Arbeit gemusst hatte. Schließlich arbeiteten Cops bekanntermaßen zu den unmöglichsten Zeiten, oder? Nicht, dass zwei Uhr nachmittags an einem Freitag tatsächlich eine seltsame Zeit gewesen wäre. Es wäre nur nett gewesen, wenn er eine Nachricht hinterlassen hätte. Dass er es nicht getan hatte, fand sie jedoch nicht besonders beunruhigend, da sie fest damit rechnete, später von ihm zu hören.
Es hätte ihr einige Schwierigkeiten bereitet, die letzte Nacht auch nur annähernd zu beschreiben, und auch deshalb war sie Sherrys Fragen nach Einzelheiten ausgewichen. Wie sollte man diese Art von purem Verlangen in Worte fassen? Dass es praktisch kein Vorspiel gegeben hatte und sie ohne große Umschweife sofort zur Sache gekommen waren? Das wurde dem Erlebnis kaum gerecht. Außerdem hatte sie eine Ahnung davon bekommen, was die Zukunft für Möglichkeiten bereithielt. Kein Mann hatte sie jemals so geliebt, wie er es getan hatte, und das zählte doch schließlich auch, oder etwa nicht? Als sie Freitagnacht ins Bett ging, ohne dass Vincent irgendetwas von sich hatte hören lassen, war sie sich allerdings nicht mehr so sicher. Er hatte ihr keine Versprechungen gemacht, natürlich nicht, aber dennoch tat ihr sein Schweigen weh.
Als sie am Sonntagmorgen wieder zur Arbeit ging, fühlte sie sich nur noch benutzt. Schlimmer noch, sie fühlte sich ausgenutzt. Es schien so, als würde Jaz letztlich doch über die bessere Menschenkenntnis verfügen. Was Ivy für den erstaunlichsten Liebesakt ihres Lebens gehalten hatte – und vielleicht den Anfang von etwas ganz Besonderem -, war für Vincent offenbar nicht mehr als ein spontanes Bedürfnis gewesen, das ihm, nachdem es erfüllt worden war, nichts mehr bedeutete und ihn nach etwas Neuem Ausschau halten ließ. Sie hatten einmal Sex miteinander gehabt; weil er an irgendein tief in ihrem Innern vergrabenes Gefühl gerührt hatte, hatte sie geglaubt, sein wahres Wesen instinktiv erfasst zu haben.
Offensichtlich war das ein Trugschluss gewesen.
In Wahrheit hatte sie nicht die geringste Ahnung, was in Vincent D’Ambruzzi vorging.
Am Morgen nach seinem nächtlichen Intermezzo mit Ivy Pennington kam Vincent zu dem Schluss, dass der eigentliche Fehler der vergangenen Nacht darin bestanden hatte, seine Überlebensstrategie aus den Augen zu verlieren. Die Gefühle, die ihn in ihrer Gegenwart übermannt hatten, gefährdeten sämtliche Schutzbarrieren, die er um sich herum errichtet hatte. Glücklicherweise war seine gewohnte Entschlusskraft zurückgekehrt, als er ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, und auch wenn er sich den Rest der Nacht unruhig in seinem Bett hin und her gewälzt hatte, so hatte das nicht das Geringste mit seiner Entscheidung zu tun, jede Verbindung zu ihr abzubrechen.
Er hatte jedes in Aufruhr versetzte Gefühl erfolgreich verdrängt, und als er am Freitagmorgen zur Arbeit fuhr, war alles wieder so, wie es sein sollte. Er war der Erste, und die seltene Gelegenheit, ungestört arbeiten zu können, durfte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. Er nahm sich eine Akte vor und breitete sich aus, solange es noch ging.
Special Assault war in einem kleinen, düsteren Raum des Polizeipräsidiums im Zentrum von Seattle untergebracht. Der Fußboden war immer schmutzig, die Beleuchtung dürftig, und auf ungefähr fünf mal fünf Metern waren die Schreibtische von zwei Detective-Teams und einem Sergeant zusammengepfercht. Die Stadt hatte ihnen eine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt, alles andere, was sich auf den dicht beieinander stehenden Schreibtischen befand, hatten die Leute, die hier arbeiteten, selbst mitgebracht. Ihr Vernehmungszimmer hatte die Größe eines Kleiderschranks.
Bereits jetzt war der Lärm von der ewigen Baustelle ein Stück weiter unten an der Straße ohrenbetäubend, und der kleine Ventilator, der sich surrend drehte, konnte nur wenig gegen die drückende Hitze ausrichten. Vincent hängte sein Jackett über die Rückenlehne seines Stuhls, lockerte die Krawatte und rollte die Ärmel seines Hemds hoch.
Als nach und nach seine Kollegen eintrudelten, stieg der Geräuschpegel merklich. Einen
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