Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
Größe oder der scharfen Schneide eines Messerstechers Vorschub zu leisten. Manch einer mochte ihn daher auch für überheblich und stolz halten, aber Firm war weitab davon, und es kümmerte ihn wenig. Er hatte es sich zu eigen gemacht, jeden neuen Morgen zu beginnen, indem er seinen Blick in die Höhe hob, den wundervollen Tag im Werden schaute, und zuweilen das Glück empfing, dass das Leben ihn grüßte – mit einem azurblauen Himmel zwischen den aschgrauen, schiefen Giebeln des stinkenden, rauchenden und lärmenden Molochs London. Für Firm hieß deshalb ein jeder Tag wundervoll, und er beging ihn ehrerbietend.
Das Messer seines Unterdrückers kratzte nun mit einem unangenehmen Geräusch über seinen Hals. Es hakte durch die Stoppeln seines kargen Bartes und hielt mit bedachtem Druck seinen Kopf in die Höhe, sodass er seinen Blick nicht von dem vernarbten Gesicht des Peinigers abzuwenden vermochte.
»Haste nich’ kapiert, häh? Du bist der dümmste Idiot, den ich kenn«, fauchte der stinkende Kerl, den man dahier nur ›Ash‹ zu nennen sich getraute, was weniger an dem Schmutz und der Asche lag, die seine grobe Haut dunkel färbte, als an seinem Tun und Wirken. Er hielt sich selbst für beauftragt, Kohle für jene zahlende Kundschaft zu beschaffen, die wahrhaft nicht genug hatte, um zahlungskräftig genannt zu werden, und die sich auf diese Weise in Abhängigkeit zu diesem Manne begab, nur um für wenige Stunden einen warmen Platz ihr eigen nennen oder einige Kartoffeln in einem zerbeulten Kaffeepott kochen zu können. Ash seinerseits kam an den begehrten Brennstoff, indem er Kohleträger einschüchterte und sie zwang, ihm zu Willen zu sein, etwas von dem kostbaren Gut auf dem Wege ihrer Auslieferungen abzuzwacken, oder sich selbst mit argen Verstümmelungen abzufinden.
»He, träumste wieda?«, brüllte er und spuckte nach Gin stinkende Gischt aus seinem Maul.
Firm schüttelte vorsichtig den Kopf und wies bedächtig erregt auf den Platz am Ende der Gratton Street, zuckte mit den Schultern, tat, als sei er machtlos. In der Tat war er es.
»Da machst dech unglöcklich!«
Der kleine Firm, der nie zu einer Größe herangewachsen war, um sein Leben aus einer höheren Sicht sehen zu können, hob mahnend einen knotigen Zeigefinger und rang dem brutalen Ash auf diese Weise wenigstens etwas Aufmerksamkeit ab. Er umfasste den Arm des schweren Kerls, drückte ihn ein wenig hinunter, sodass auch die Klinge nicht mehr an seine Kehle reichte, und wies auf den Platz, wo man die Kohle angeliefert hatte. Ein wenig vom restlichen Tageslicht drang hinab in die schmutzigen Klippen der grauen Häuser, inmitten derer das schwarze Gold aufgehäuft war. Es ward bewacht durch einen schlagkräftigen Trupp Raufbolde, die für den Kohlehändler arbeiteten und darauf zu achten hatten, dass die Kohleträger ihre Pflicht taten und nicht ein schwarzes Stück unterschlugen. Das war an sich nichts Außergewöhnliches, doch dieses Mal zählte zu den Schlägern auch ein Kerl namens Brute, der es besonders auf Ash abgesehen hatte, war jener doch unter den Kohlehändlern ein verhasster Übeltäter, den es zu stellen und zu bestrafen galt. Brute hatte von seinem eigenen kärglichen Lohn ein Kopfgeld auf Ash ausgesetzt, welches, wenn man ihn auf frischer Tat ertappte, zu vergeben sei.
Ash spähte verkniffen zu den Schlägern. »Ich weiß«, sagte er leise. Und hernach klang es wie das verhaltene Knurren eines alten Hundes. »Ich weiß’s.« Er sah auf den mickrigen, verwachsenen Firm hinab und schickte sich an, Unbarmherziges von sich zu geben, als er sah, wie das kümmerliche Wesen zu seinen Füßen ein gütiges Lächeln aufsetzte und ihm mit Gesten zu verstehen gab, dass es Ash nicht gut bekommen mochte, wenn Brute von ihm und seinem Vorhaben erfuhr. »Drohst de mir etwa, du Dreckskrume?«
Firm war erschrocken und schüttelte den Kopf. »N-n-ne, d-d-der ist d-d-doch hier, w-w-w-weil er a-a-auf d-d-dich erp-p-picht.«
Ash beschaute den verkrüppelten und beständig schrumpfenden Firm mit einer gefahrvollen Abschätzung und ließ hernach mit weit größerem Misstrauen noch seinen verkniffenen Blick zu Brute zurückkehren. Sein Widersacher war zwar größer und kräftiger, sein eigener Hang zur Fettleibigkeit jedoch verlieh ihm etwas Bedrohlicheres, versetzte es ihn doch in eine andere Gewichtsklasse, die ihn vielen seiner ausgemergelten Gegner überlegen machte. Daher ließ Ash sich so leicht nicht einschüchtern. Seine Klinge zuckte
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