Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
einer Gegend Urlaub machen, in der man Gefahr lief, von tschechischen Grenzern beschossen oder gar in den Ostblock verschleppt zu werden. Zwar war der Eiserne Vorhang inzwischen gefallen, aber es würde noch eine Weile dauern, bis die Dörfchen an der Grenze aus ihrem Dornröschenschlaf erwachten.
Aber in der Nähe der Burg, fügte Jan rasch hinzu, gäbe es ein Dorf mit einem Postamt, einer Gastwirtschaft und einem Kaufhaus. »Denk darüber nach. Markus bezahlt mir den Job sehr gut, und Heidebrock liegt in einer wild romantischen Landschaft zwischen Felsen, Mooren und Wäldern. Es wäre gewissermaßen ein neuer Job und zugleich ein kostenloser Urlaub.«
Julia schwieg. Sie empfand einen bedrückenden Widerwillen bei dem bloßen Gedanken daran, die Burg zu betreten. Das Waldviertel, hatte sie gehört, war eine einsame Gegend. Es war kalt und neblig, mit undurchdringlichen Wäldern und schwarzen Teichen, von denen man unheimliche Geschichten erzählte. Auf Schritt und Tritt stieß man dort auf heidnische Opfersteine und andere Zeichen einer dunklen Vergangenheit. Selbst in der Gegenwart trafen sich auf einsamen Waldlichtungen die Gläubigen absonderlicher Kulte. Sie opferten Blumen und Beeren auf den Steinen, über die einst das Blut von Menschenopfern geflossen war. Druiden, Hexen, Esoteriker – sie alle wandten ihr Interesse den finsteren Hochmooren und wilden Tannenwäldern dieser geheimnisvollen Landschaft zu.
Andererseits hatte Jan natürlich Recht. Das Angebot war verlockend. Sie kannte Markus von Weldern nur flüchtig, fand ihn aber ausgesprochen sympathisch. Es war nett von ihm gewesen, sie mit einzuladen, obwohl er eigentlich nur Jan brauchte. Aber sie konnte sich ja nützlich machen und ihrem Mann dabei helfen, die Bücher der Bibliothek, die allem Anschein nach riesig war, zu katalogisieren. Das Geld, das sie dafür bekommen sollten, brauchten sie dringend. Vielleicht waren die Verwalter ja auch nette Leute. Und außerdem: Jan, der seit drei Monaten ohne Arbeit war, wurde täglich gereizter. Er vermisste seine Arbeit und schämte sich, arbeitslos zu sein. Es kratzte an seinem Ego, und er war verdrießlich, wehleidig und fing oft Streit an. Die sechs Wochen auf Heidebrock würden nicht nur ihm gut tun, sondern auch ihrer Ehe.
»Na dann«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln, »lass uns gemeinsam das Spukschloss besichtigen!«
Jan lächelte erfreut über ihre Antwort, aber dann wurde er ernst. »Sag so etwas lieber nicht vor Markus«, warnte er sie. »Er ist empfindlich, was die Geschichte seiner Familie angeht. Es scheint, als hätten sich auf Heidebrock früher schreckliche Dinge abgespielt. Und die Sage von dem Spuk ist ihm besonders peinlich.«
»Dann gibt es also tatsächlich einen Geist auf Heidebrock? Komm, erzähl! Dann werde ich wenigstens nicht überrascht sein, wenn ein alter Raubritter kettenklirrend durch den Korridor schleicht.« Neugierig beugte sich Julia vor.
»Es ist kein alter Raubritter, sondern eine Frau – eine seiner Vorfahren. Markus machte eine Bemerkung, dass er Ärger mit seinen Nachbarn und den Bewohnern der umliegenden Dörfer hat. Eine frühere Herrin auf Heidebrock muss eine wahre Teufelin gewesen sein. Seither gibt es da einen alten Aberglauben, dass es Unglück bringt, wenn eine Frau als Herrin auf der Burg wohnt.«
Julia schüttelte den Kopf. Nicht zu glauben, was sich in solchen verwunschenen Ecken der Welt an Ammenmärchen hielt! »Und was hat die wahre Teufelin gemacht? War sie eine böse Schwiegermutter?«
»Das sicher nicht. Sie war eine wirklich garstige Frau. Du weißt, wie das in alten Zeiten war: Adelige konnten sich fast alles erlauben, und sie taten es auch. Ich kenne nur eine Geschichte, die ich zufällig in einem alten Band über Volkssagen und Schauergeschichten entdeckte. Ich habe das Buch behalten, weil ich Markus danach fragen wollte, aber dann habe ich es mir anders überlegt. Er hat von sich aus nie über Heidebrock gesprochen und wurde sehr ärgerlich, wenn ihn Kollegen mit seiner Ritterburg neckten. Warte, ich hole das Buch!«
Er brachte aus seinem Arbeitszimmer einen dünnen Band. Das abgegriffene und altmodische Aussehen ließ deutlich erkennen, dass er aus einem Antiquariat stammte. Mit gedämpfter Stimme las Jan seiner jungen Frau vor.
»In einer wilden Sturmnacht saßen die Mönche des Klosters in der Nähe von Heidebrock beisammen. Während sie sich am Feuer wärmten, sprachen sie von wundersamen und erschreckenden Dingen. Die einen
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