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Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen

Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen

Titel: Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alisha Bionda
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Schatten von Grabmalen, von Büschen und die dunklen Äste der Bäume vor dem wolkenverhangenen Himmel. Nach der Stadt wirkte der Ort ruhig, aber sie konnte das Leben hören, das sich diesen Platz der Toten als Heimstatt gewählt hatte, die kleinen Tiere, die zwischen den Grabsteinen ihren nächtlichen Kampf ausfochten.
    Er hatte ihr den Weg beschrieben. Anscheinend war er sich seiner Sache sehr sicher, denn die Dunkelheit und Stille hätten andere sicherlich ferngehalten.
    Nicht jedoch sie.
    Dabei hatten sie die Orte der Toten einst abgeschreckt. Inzwischen waren sie ihr egal. In ihren Ansiedlungen hatte sie die Verbannung dieser Stätten befohlen, Nekropolen errichten lassen, außerhalb der Stadt, jenseits ihrer Sicht. Und noch immer lagen die Totenäcker meist vor den Ortschaften, wenn diese sie nicht mit ihrem unaufhaltsamen Hunger nach Land und Wachstum in sich aufgenommen hatten.
    Dieser Friedhof war außerhalb des Stadtteils errichtet worden, aber schon näherten sich ihm die Häuser der Lebenden. Mehr und mehr würden sich die Menschen ausbreiten, bis auch er inmitten der Stadt lag.
    Ein kleines Licht erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein Flackern, warm und gelb.
    Sie ging in seine Richtung.
    Einst waren diese Lichter alles gewesen, was die Dunkelheit der Nacht erhellte. Feuer, klein und groß, die nichts waren gegen die unendliche Finsternis. Sie hatte in ihren Tempeln zahllose Lampen anzünden lassen, bis die Räume taghell waren, doch die Dunkelheit war immer nur einen Windhauch entfernt geblieben. Auf jeder Stufe der Zikkurat hatten die Feuerschalen gebrannt und ihr Heim in ein leuchtendes Symbol der Macht verwandelt, das die gesamte Metropole überstrahlt hatte.
    Jetzt war die ganze Welt hell, und die Dunkelheit befand sich auf dem Rückzug, verlor jede Nacht mehr Boden und musste sich dem künstlichen Licht der Menschheit beugen.
    Aber ihre Verabredung hatte nur einen schmalgliedrigen Leuchter mit vier Kerzen entzündet, der auf einem Grab stand. Sie musste ob dieses Anachronismus lächeln, auch wenn er sicher gezielt auf die Wirkung des warmen Lichts gesetzt hatte. Er saß im Schein der Kerzen. Sie konnte seinen Geruch wahrnehmen, diese Mischung aus Aftershave, Haargel, der Farbe in seiner Kleidung, dem Leder seiner Stiefel – Blut.
    »Ich hatte schon befürchtet, dass du nicht kommst.« Seine Stimme klang tief und angenehm, und in dieser Umgebung war sie wirkungsvoller als in dem lärmenden Club. Sie neigte den Kopf und lächelte schüchtern. Er erwiderte ihr Lächeln und erhob sich.
    »Eine wundervolle Nacht, nicht wahr? Die Wolken geben dem Himmel etwas so … Majestätisches.«
    Unter wie vielen Himmeln er diese Worte wohl schon gesprochen hatte? Wie viele Hände hatte er ergriffen, wie oft tief in die Augen von Frauen geblickt? Sie spürte ein leichtes Ziehen, kaum mehr als die Ahnung eines Sehnens. Er war gut, so viel musste sie ihm zugestehen. Seine Kunst verließ sich nicht nur auf seine Macht oder sein Aussehen; er spielte das Spiel gekonnt und mit einer gewissen Leidenschaft, die die ihre entflammte.
    Sie nickte stumm, als nähme ihr seine Präsenz die Worte. Seine Finger waren warm, viel wärmer als ihre eigenen. Hitze – geboren aus Lust und Verlangen. Sie setzten sich auf das Grab, und der Gedanke amüsierte sie einen Augenblick.
    Er redete, doch sie achtete nicht auf seine Worte. Vielmehr waren es die Kleinigkeiten, die sie faszinierten. Seine winzigen Gesten, die Art, wie er den Kopf zur Seite neigte, wenn er sie ansah, die Berührung, die nur einen Augenblick anhielt, die Verletzlichkeit in seiner Miene, wenn er von Belanglosigkeiten sprach.
    Sie hatte andere wie ihn gekannt. Als sie jung war, hatte sie sie selbst gezeugt. Und die Menschen waren in ihre Tempel gekommen, wenn sie rief; zu Hunderten, obwohl jeder wusste, dass nicht einer unter Tausenden die Prozedur überlebte. Sie knieten vor ihr nieder, tranken ihr Blut aus den goldenen Schalen und beteten zu ihr. Und sie erbrachen ihr eigenes Blut, schüttelten sich auf dem kalten Stein, bis alles Leben aus ihnen gewichen war. In den alten Zeiten benötigte sie Kinder, um ihr Heim zu verteidigen. Die anderen sahen immer voller Gier auf die Städte, schlichen in der Dunkelheit umher, labten sich an Hirten und Wanderern und träumten von den hellen Lichtern der Städte in den Ebenen zwischen den Flüssen.
    Mit einer ausholenden Bewegung fasste er die ganze Welt für sie zusammen und legte sich auf den Rücken. Sie folgte seinem Beispiel,

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