Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
rückte scheinbar unwillkürlich näher an ihn heran. Sein Arm legte sich um ihre Schultern, als er weiter über die Schönheit der Nacht redete. Es gab nicht mehr viele wie ihn.
Die Städte waren verschwunden, Imperien zerschlagen. Am Ende blieben nur Staub und toter Stein von einstiger Pracht, graue Blöcke, die kaum noch von der Schönheit der bemalten Statuen künden konnten. Viele ihrer Brüder und Schwestern waren gestürzt, taumelnd im Fluss der Zeit verschwunden, getötet, gejagt, verloren. Manche der Kinder hatten überlebt, um eigene Dynastien zu gründen, doch selbst jene waren davongeweht worden wie Spreu im Herbstwind.
Aber noch gab es sie, Jäger wie ihn, der neben ihr saß. Verborgen im Puls des menschlichen Lebens, untergetaucht in den Städten, die überall auf der Welt wie Pilze wuchsen und wucherten und Raubtieren wie ihm den perfekten Jagdgrund boten.
Seine Finger wanderten ihren Arm entlang, leichte Berührungen, immer dem Lauf ihrer Adern folgend. Er hatte wieder den Kopf zur Seite geneigt und sah sie nun an, und sie gestattete ihm den Moment des Triumphs, indem sie schüchtern lächelte und vorgab, in seinem Blick zu versinken. Nicht einmal jetzt wendete er seine Kräfte an, sondern verließ sich allein auf die Macht seiner Verführungskünste.
Fast tat es ihr leid, dass sie ihn töten würde. Aber solche Gefühle hatte sie vor langer Zeit hinter sich gelassen, in den einsamen Nächten, als sie auch alles Menschliche hinter sich gelassen und alles abgestreift hatte, was ihr Überleben behindern mochte – alle Emotionen, Hemmungen, Sorgen, Ängste, Hoffnungen. Als ihre Stadt brannte, ihre Günstlinge abgeschlachtet wurden, ihre Kinder unter Keulen und Fängen starben.
Von wem ihr Gegenüber abstammte, konnte sie nicht sagen. Vermutlich wusste er es nicht einmal selbst. Vielleicht entstammte er sogar ihrer Linie. Sie hatte längst die meisten Fäden des Blutes aus dem Blick verloren, die sich durch die Jahrhunderte zogen.
Er beugte sich vor und küsste sie. Seine Lippen waren weich, ihre Berührung sanft, sein Atem ein leiser Hauch auf ihrer Haut. Sie schloss die Augen und ließ ihn gewähren. Er forderte nicht, drängte nicht, sondern zog sich wieder zurück, als sei er von seiner eigenen Courage erschreckt. Als er sich abwandte, legte sie die Hand auf seine Wange.
Es war an der Zeit, das Spiel zu beenden.
Einst hatte sie es aus Rache getan; jene gejagt, die ihr die Heimat genommen hatten. Dann gewann sie Lust daran, begann den Kitzel der Jagd zu genießen, die Gefahr. Damals war ihre Beute alt gewesen, schlau und listenreich. Sie hatte Kriege angezettelt, Schlachten gelenkt, Feuersbrünste gelegt, nur um ihre Beute aus dem Versteck zu treiben. Nicht selten hatte sie jene getroffen, die ihr ebenbürtig waren, ein langer, zäher Kampf über Jahre und Jahrzehnte, doch am Ende war es immer sie gewesen, die siegreich geblieben war.
Davon war nichts übrig geblieben. Sie verspürte keine Freude mehr am Kampf, keine Genugtuung beim Töten, keinen Rausch, wenn das Blut ihrer Widersacher über ihre Lippen rann.
Sie war müde.
»Was ist?« Für einen Moment hatte sie nicht aufgepasst, hatte ihre Tarnung fallen lassen, ihm einen Einblick gewährt. Doch das ist bedeutungslos , beschied sie sich selbst.
»Nichts. Alles ist gut.«
Sie vertrieb seinen skeptischen Blick mit einem langen Kuss. Sie gab ihm, was er wollte. Im finalen Moment der Jagd ließ er die Verteidigung außer Acht. Seine Hände glitten über ihren Leib, fuhren unter ihr Hemd, streichelten ihre Schenkel, ihren nackten Bauch. Seine Zunge öffnete ihre Lippen und sie stöhnte, als seine Finger ihre Brust berührten. Seine Hand griff in ihr Haar, bog ihren Kopf zurück, während er ihre Wange mit Küssen bedeckte, tiefer wanderte – bis zum Hals.
Bevor er es vollenden konnte, zog sie seinen Kopf zurück und bäumte sich auf. Ihrer Kraft war er nicht gewachsen, und nun zeigte sich Angst in seinem Blick. Sie schwang sich auf seine Brust, presste ihn zu Boden, eine Hand an seinen Handgelenken, eine an seiner Kehle. Er verzog das Gesicht vor Schmerz, als er vergeblich versuchte, sich aus ihrem Griff zu winden.
Seine Zähne waren nun deutlich zu sehen – lang, scharf, tödlich.
»Du bist kein Mensch!«
»Ich fürchte, ich habe dich belogen«, entgegnete sie trocken und senkte den Kopf zu seinem Hals.
»Wer bist du?«
Es war nur eine Laune des Augenblicks, die sie innehalten ließ. Er hatte sie amüsiert, ihr gefallen, und das
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