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Unter feindlicher Flagge

Unter feindlicher Flagge

Titel: Unter feindlicher Flagge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sean Thomas Russell
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beweisen, dass man dazugehört, muss man sich die Anerkennung der anderen erarbeiten. Und das bedeutet, dass man sich hervortun muss und eine Tat begeht, die noch brutaler ist als die des Vorgängers. Wenn ein Mann ein Ladenfenster einschlägt, dann muss der Nächste die Waren stehlen, der Nächste muss das Gebäude in Brand setzen. Und auf diese Weise eskaliert die Sache, wenn sich jeder im Pöbel einen Namen machen will. Also werden auch der Ladenbesitzer und dessen Familie auf die Straße gezerrt. Jemand versetzt dem Kaufmann einen Tritt, ein anderer schlägt ihn mit einem Knüppel. Menschen werden misshandelt, Frauen und Männer umgebracht. Der gesetzlose Mob begeht Gräueltaten - man trinkt das Blut der Opfer, isst Organe. Es gibt kein Tabu mehr.«
    »Ich habe gelesen, was man mit den Gefangenen gemacht hat - in Paris«, flüsterte Wickham mit todernster Miene. Er zögerte, wollte etwas sagen, hielt sich zurück und fragte schließlich heiser: »Glauben Sie, dass die Matrosen einen so großen Groll gegen uns hegen, Mr Hayden?«
    »Vielleicht einige an Bord. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Fockmastmatrosen die Offiziere respektieren, die gerecht sind. Zu nachlässig darf ein Offizier natürlich auch nicht sein, wenn er sich den Respekt der Mannschaft verdienen will. Ein Tyrann wird zwar gefürchtet, aber niemand wird ihn respektieren. Doch Sie haben nichts zu befürchten, Mr Wickham. Die Mannschaft denkt nicht schlecht über Sie, so viel ist klar.«
    »Danke, Sir, aber ich weiß, dass ich noch viel lernen muss.«
    »Wie wir alle, Mr Wickham. Die See ist eine harte Zuchtmeisterin, und wir werden vielleicht nie all das lernen, was wir lernen müssten. Aber Sie haben einen vielversprechenden Anfang gemacht.«
    Wickham versuchte zu lächeln. »Ihnen einen gute Nacht, Sir.«
    »Wünsche ich Ihnen auch, Wickham.«
    Der kleine Midshipman verließ gerade die Offiziersmesse, als sich einer der Diener hereinstahl. Hayden schob die Pamphlete unter die Auflistung der Mannschaft.
    »Nun, nun«, murmelte er. Der junge Wickham war vielschichtiger, als Hayden zunächst angenommen hatte. Da er selbst einige Jahre als Midshipman gedient hatte, war ihm oft aufgefallen, dass die Kameraden ein achtloser Haufen waren und ihre Nasen kaum je in ein Buch steckten. Doch diese Midshipmen, zusammen mit dem Dritten Leutnant Archer, hatten so etwas wie einen Debattierclub gebildet. Sie lasen viel und diskutierten über jedes Buch, das ihnen in die Finger kam. Und die meisten dieser Bücher lieh Wickham dann Aldrich. Eine seltsame Allianz formte sich da an Bord heraus: ein Matrose des Focksegels und der Sohn eines Adligen. Nach Haydens Dafürhalten sagte das viel über den Matrosen und den jungen Mann.
    Ihm fiel auf, dass Wickham seinen Besuch gut geplant hatte - es war nämlich niemand in der Offiziersmesse, nur Archer, der in seiner Kabine schlief. Der junge Lord war kein Narr und konnte, wie es schien, andere Menschen gut einschätzen. Aber wurde er, Hayden, auch der Wertschätzung des jungen Lords gerecht? Tatsächlich hatte Wickham ihn in eine unangenehme Situation gebracht. Als Erster Leutnant war es seine Pflicht, Hart von den Pamphleten zu berichten, aber er wusste ja inzwischen, zu was das führte. Er musste sich nun zunächst mit Aldrich befassen, doch er war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte.
    Letzten Endes rief er Perseverance und trug ihm auf, Aldrich zu suchen. Augenblicke später erschien der Seemann in der Offiziersmesse und zog die Hand zum Gruß an die Stirn. Nicht zum ersten Mal fiel Hayden auf, dass Aldrich als Matrose die besten Manieren an Bord hatte. Er trat bescheiden auf, wirkte sicher, aber nie großspurig. Die Männer, die vor dem Mast fuhren, achteten Aldrich, da er der beste Seemann an Bord war und immer aushalf. Hayden war auch nicht entgangen, dass Aldrich stets mit wachen Augen wahrnahm, was an Bord geschah. Er war klug und umsichtig. Das strähnige, blonde Haar fiel ihm in die hohe Stirn.
    »Sie haben nach mir geschickt, Mr Hayden?«
    »In der Tat, Aldrich.« Hayden wusste nicht genau, wie er das Gespräch beginnen sollte, und daher betrachtete er den Seemann einen Moment lang. Aldrich war so groß, dass er in der offenen Kabinentür den Kopf ein wenig einziehen musste. »Wie ich hörte, sind Sie ein fleißiger Leser.«
    »Aye, Sir.«
    »Wo haben Sie lesen gelernt?«
    »Von dem Pastor an Bord der Russell, Sir. Ich war sein Diener, und er brachte mir das Lesen und eine gute Ausdrucksweise

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