Unter feindlicher Flagge
passieren wird. Ich bin nicht Kapitän Harts Schützling, das ist klar. Prisengeld rechtfertigt wohl nicht, sich einem Befehl zu widersetzen, zumal noch drei Mann starben.«
»Oh, die Toten werden ihn nicht groß stören, Sir, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Aber was die Befehlsverweigerung betrifft - der Kommandant kann es nicht ausstehen, wenn ihm jemand widerspricht. Mr Arnold, unser letzte Erster Leutnant, sagte einmal: ›Wenn der Kommandant einen südlichen Kurs vorgibt, Sie aber den Kurs ändern, um gefährlichen Riffen auszuweichen, dann wird Hart Sie dennoch wegen Aufsässigkeit vor ein Kriegsgericht stellen‹.«
Hayden wünschte, die Männer würden nicht so reden - als würden sie alle gegen den Kommandanten konspirieren. Aber was sollte er tun? Etwa Hart verteidigen? Er hatte sich dem Befehl des Mannes widersetzt und heimlich mit dem Doktor ausgehandelt, zumindest für kurze Zeit das Kommando über das Schiff zu haben.
Darüber hinaus spürte Hayden, dass er noch mehr getan hatte, als Harts Befehl zu missachten - er hatte der Mannschaft bewiesen, dass er absolut nicht zögerlich oder zurückhaltend war. Sollte Hart ihn ruhig öffentlich beschimpfen, der ängstliche Kommandant würde fortan immer vor Augen haben, dass Hayden Dinge fertigbrachte, für die Hart der Mut fehlte. Und die ganze Mannschaft wusste dies. Wenn Hart nun weiterhin Offiziere schikanierte oder ausfällig wurde, würde jeder wissen, warum Hart sich so verhielt, denn es lag an der Boshaftigkeit und dem puren Neid des Mannes.
»Teilen Sie die Männer für die Wachen ein, Mr Wickham. Ich übernehme die erste Wache und Sie die zweite. Die Leute, die nicht eingeteilt sind, können an Deck schlafen. Ich rechne mit einer ruhigen Nacht.«
»Aye, Sir.« Wickham führte den Auftrag aus.
Männer wurden in die Ausgucke geschickt, denn die Gefahr von den Kanonenbooten und Fregatten war noch nicht gebannt. Hayden bewies Augenmaß. Ohne das Schiff oder die Disziplin an Bord zu vernachlässigen, belohnte er die Mannschaft für den mutigen Einsatz, indem er die Vorschriften ein wenig lockerte.
Irgendwo fanden die Männer Alkohol. Die Matrosen, die gerade keine Wache hatten - aber wohl auch leider die, die eigentlich eingeteilt waren -, saßen im Mondschein an Deck und betranken sich leise. Hayden ermahnte sie, keinen Lärm zu machen, da feindliche Schiffe in der Dunkelheit kreuzen könnten. Absichtlich hatte er keine Laternen entzünden lassen und vertraute auf seinen scharfen Blick und das Sternenlicht.
Der ablandige Wind brachte sie ein paar Meilen hinaus aufs Meer, wo Hayden für die Nacht beidrehte. Zwei Stunden nach Mitternacht ließ der Wind ganz nach, und das Schiff lag auf der spiegelglatten See. Der abnehmende Mond stieg um Mitternacht und bildete einen fast ununterbrochenen silbrigen Pfad zur Küste.
Hayden konnte nicht schlafen. Er machte sich keine Sorgen wegen des kommenden Tages, obwohl er hin und wieder an Hart denken musste. Vielmehr erinnerte er sich, wie er als Kind die Verwandten in der Bretagne besucht hatte. Wie anders ihm die Menschen dort vorgekommen waren als die Freunde der Eltern in England! Jetzt brachte der ablandige Wind wieder den Geruch der Häuser mit sich, den er noch von früher kannte. Der Duft der Gärten oder des frisch gebackenen Brots und frisch gemähten Heus. Im Augenblick überkam ihn eine tiefe Sehnsucht nach der Heimat seiner Mutter - nach den Orten, an denen er als Junge viel Schönes erlebt hatte. Wie sehr er jetzt die wenigen Wochen in Paris bereute! Denn dadurch war sein Bild von den Franzosen auf ewig mit den schlimmen Ereignissen in den Straßen verknüpft. Ja, er stellte sogar seine eigene Zurechnungsfähigkeit infrage. Im Nachhinein wäre er lieber auf See gewesen, weitab von den Mobs, den flammenden Reden und den Aufrufen, auf die Barrikaden zu gehen.
Nach Haydens Dafürhalten waren die Dinge auf offener See stets klarer gewesen. Der Feind segelte unter einer bekannten Flagge, und nie stellte sich die Frage nach der Schuld - im Gefecht ging es nur darum, den Feind zu besiegen oder gar zu versenken, bevor er dasselbe mit einem selbst tat. Seit seiner Kindheit kannte er das Meer, und ein Schiff hatte er in allen erdenklichen Situationen lenken können. Auf See traute er sich weitaus mehr zu als an Land. Aber sein Eindruck von Schiffen hatte sich in dem Moment geändert, als er einen Fuß an Bord der Themis gesetzt hatte. Dort war nichts, wie es aussah. Und jetzt war er bloß wenige
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