Unter Freunden
sofort von der Fortbildung für Erzieherinnen zurückzukommen. Bevor sie nach Hause ging, holte sie aus dem Kinderhaus warme Unterwäsche, saubere Kleider und Stiefel für den Jungen. Sie beschied Roni, mit zusammengekniffenen Lippen, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, dass nach allem, was geschehen war, sie und nur sie allein verantwortlich für Juval sei, und sie habe beschlossen, dass der Junge zu seinem eigenen Wohl noch heute Abend zum Schlafen ins Kinderhaus zurückkehren solle.
Der Regen hatte aufgehört, aber am Himmel hingen noch immer schwere Wolken, und den ganzen Tag hatte schon ein feuchtkalter Wind geweht. Das Zimmer füllte sich mit Zigarettenrauch. Um halb acht Uhr abends zog Lea Juval die Jacke und die grünen Stiefel an und sagte: »Komm, Juval. Wir gehen schlafen. Es wird dir keiner etwas tun.« Und sie fügte hinzu: »Es ist Schluss mit eurem Toben. Ab heute Abend wird die Nachtwache ein Auge auf euch haben, wie es sich gehört.«
Sie gingen, und Roni blieb allein zurück. Er zündete sich eine Zigarette an und stand am Fenster, mit dem Rücken zum Zimmer, und schaute hinaus ins Dunkle. Um neun kam Lea zurück und sagte kein Wort zu ihm. Sie saß in ihrem Korbsessel, rauchte und las die Monatszeitschrift Echo der Pädagogik . Um zehn sagte Roni: »Ich gehe noch mal raus. Ich will nachschauen, wie es ihm geht.
Lea sagte ruhig: »Du gehst nirgendwohin.«
Roni zögerte und gab nach, weil er sich wieder seiner selbst nicht sicher war.
Um halb elf machten sie das Radio aus, leerten denAschenbecher, klappten das Sofa auf und gingen schlafen, er in seine Decke gewickelt, sie in ihre, denn auch morgen würden sie vor sechs aufstehen und zur Arbeit gehen müssen.
Es hatte wieder zu regnen begonnen, und der Zweig des Ficusbaums schlug im Wind hartnäckig gegen den Fensterladen. Roni lag auf dem Rücken und starrte hinauf an die Decke. Einen Moment lang kam es ihm vor, als hörte er ein schwaches Quietschen in der Dunkelheit. Er setzte sich im Bett auf und lauschte angestrengt, doch nun hörte er nur noch den Regen und den Wind und den Zweig. Dann schlief er ein.
I n der Nacht
I m Februar war Joav Karni an der Reihe, für eine Woche den nächtlichen Wachdienst zu übernehmen, von Samstagabend bis Freitagabend. Er war das erste Kind gewesen, das im Kibbuz Jikhat zur Welt gekommen war, und die Gründergeneration, vor allem seine Eltern, waren sehr stolz auf ihn, als er zum Sekretär gewählt wurde, der erste Sekretär aus der Generation der schon im Kibbuz Geborenen. Die meisten Söhne des Kibbuz waren braungebrannt und kräftig, Joav hingegen war blass und hager, er hatte große Ohren und vorgebeugte Schultern, war nachlässig rasiert und wirkte gedankenverloren. Er sah aus wie ein Jeschiwa-Schüler. Sein Kopf war immer etwas vorgereckt, als suchte er im Dunkeln den Weg, den Blick hielt er meist über die Schulter seines Gesprächspartners gerichtet. Den Kibbuz leitete er mit Umsicht und Takt. Nie erhob er seine Stimme, nie schlug er mit der Faust auf den Tisch, alle im Kibbuz schätzten ihn für seinen Anstand, seine ruhige Beharrlichkeit und seine Güte. Er hingegen schämte sich für seine Güte und bemühte sich, immer eine strenge und prinzipientreueHaltung einzunehmen. Wenn du dich mit der Bitte um irgendeine Erleichterung oder Vergünstigung an ihn wandtest, erklärte er dir ernst, so etwas komme bei uns überhaupt nicht infrage, wir müssten uns immer nach den Prinzipien des Kibbuz richten. Doch sofort danach machte er sich daran, diskret nach einer Lücke in den Statuten zu suchen, die eine Umgehung der Regeln ermöglichte, um dir ein wenig entgegenzukommen.
Ein paar Minuten vor elf Uhr nachts zog Joav warme Sachen und Stiefel an, schlüpfte in seinen abgetragenen schweren Militärmantel, setzte eine Wollmütze auf, die seine Ohren bedeckte, und ging zum Haus des vorherigen Wachmanns, Zvi Provisor, um von ihm die Waffe zu übernehmen.
Zvi, der Gärtner, hielt den Sekretär zurück und verkündete traurig: »Vielleicht hast du es schon gehört, Joav: In Minnesota gibt es den schlimmsten Schneesturm seit vierzig Jahren. Bis jetzt werden achtzehn Tote und zehn Vermisste gemeldet.«
Joav sagte: »Das tut mir leid zu hören.«
Zvi fügte hinzu: »In Bangladesch gibt es Überschwemmungen. Und in Jerusalem ist vor einer oder zwei Stunden ganz unerwartet der Rabbiner Kupermintz gestorben. Es ist gerade im Radio gekommen.«
Joav wollte die Hand auf Zvis Schulter legen, doch auf halbem
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