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Unter Freunden

Unter Freunden

Titel: Unter Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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linken. Er beugte sich über Juval, der noch immer auf dem Boden lag, lachte und sagte: »Welchen Teil willst du, Juval? Du hast die Wahl.«
    Juval stand auf, lief zwischen den Kindern hindurch, die sich um ihn drängten, rannte blind vor Tränen zur Tür, riss sie auf und rannte hinaus in die Dunkelheit, hinein in den finsteren Hof des Todes vor dem Kinderhaus, rannte barfuß durch den Schlamm, zitternd vor Kälte und Angst, rannte und sprang wie ein gehetzter Hase durch den Regen, aus seinen nassen Haaren lief Wasser über seine Wangen und mischte sich mit den Tränen, er rannte an den dunklen Häusern und am finsteren Wäldchen hinter dem Speisesaal vorbei, hörte ganz in der Nähe das Tappen des schwarzen Wolfes, der ihn verfolgte, spürte dessen Atem in seinem Nacken und verdoppelte die Geschwindigkeit seiner Flucht, der Regen wurde stärker, und der Wind schlug ihm ins Gesicht, er stolperte und fiel in einer Pfütze auf die Knie, schürfte sich die Haut ab, stand nass und schlammverschmiert wieder auf, rannte weiter allein durch die Dunkelheitzwischen einer Laterne und der nächsten, rannte und schluchzte leise und abgehackt, seine Ohren wurden kalt und taten weh, rannte und rannte, bis er die Wohnung seiner Eltern erreichte und sich auf den Stufen vor der Haustür niederfallen ließ, weil er Angst hatte, hineinzugehen, Angst hatte, sie würden böse auf ihn sein und ihn ins Kinderhaus zurückbringen, und dort auf den Stufen vor der Haustür, zusammengekrümmt, starr vor Kälte und lautlos weinend, fand ihn sein Vater, als er aus dem Speisesaal zurückkam von seinem abendlichen Zusammensein mit den Klatschmäulern.
    Roni nahm seinen Sohn auf den Arm und trug ihn hinein, er zog ihm den nassen Schlafanzug aus, wischte mit einem Waschlappen vorsichtig den Schlamm und den Rotz ab und rubbelte mit einem großen, rauen Handtuch den vor Kälte starren Körper des Jungen warm, dann wickelte er den Jungen in eine warme Decke und machte den Ofen an, und währenddessen entlockte er Juval alles, was im Kinderhaus geschehen war. Er sagte dem Jungen, er solle in die Decke gehüllt neben dem Ofen auf ihn warten, und rannte keuchend und glühend vor Zorn durch den Regen den Hang hinauf.
    Als er im Kinderhaus ankam, die Schuhe schwer vom Schlamm, versuchte die Nachtwache Berta Brum irgendetwas zu ihm zu sagen, aber er hörte nichts und wollte nichts hören, blind und taub vor Verzweiflung und Zorn platzte er in Juvals Zimmer, machte das Licht an, bückte sich und riss einem zarten, stillen Jungen mit Namen Jair die Decke weg, er stellte ihn auf das Bett und ohrfeigte ihn wieder und wieder links und rechts, bis dessen Nase anfing zu bluten, er schlug den Kopf des Jungen gegen die Wand, einmal und noch einmal und noch einmal, und schrie mit heiserer Stimme: »Das ist noch gar nichts! Das ist noch gar nichts! Wenn es noch einmal einer wagt, Juval anzurühren, den bringe ich um!«
    Berta, die Nachtwache, stürzte sich auf ihn und zog ihn mit Gewalt weg von dem Jungen, der auf dem Bett zusammensackte und in ein dünnes, durchdringendes Weinen ausbrach. »Du bist verrückt geworden, Roni, vollkommen verrückt!«, rief Berta wieder und wieder. Roni ballte seine Faust und schlug ihr gegen die Brust, stürmte hinaus und rannte, so schnell er konnte, durch den Schlamm und Regen nach Hause, zu seinem Sohn.
    Die ganze Nacht schliefen Vater und Sohn eng umschlungen auf dem ausgeklappten Sofa, und am Morgen blieben beide in der Wohnung. Roni ging nicht zur Arbeit in die Schlosserei und brachte Juval nicht in denKindergarten. Er schmierte seinem Sohn ein Brot mit Marmelade und machte eine Tasse Kakao warm. Um halb neun klopfte Joav, der Kibbuzsekretär, an die Tür und teilte Roni mit ernstem Gesicht und in kargen Worten mit, er habe morgen pünktlich um fünf Uhr nachmittags im Sekretariat zu erscheinen, um bei einer gemeinsamen Sitzung des Sozial- und des Kleinkinderausschusses persönlich Rede und Antwort zu stehen.
    Beim Mittagessen saßen Ronis Freunde ohne ihn am Tisch der Klatschmäuler in einer Ecke des Speisesaals und redeten über das, was seit dem frühen Morgen im ganzen Kibbuz Jikhat das Gesprächsthema des Tages war. Sie stellten Überlegungen an, was Roni wohl gesagt hätte, wenn ein anderes Kibbuzmitglied so etwas getan hätte. Und sie sagten: »Man kann nie wissen, so ein ruhiger Mensch, mit Humor, und nun seht, wozu er fähig ist.« Um drei Uhr nachmittags traf Lea im Kibbuz ein, die man telefonisch aufgefordert hatte,

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