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Unter Freunden

Unter Freunden

Titel: Unter Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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Zeit hatte, über das nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Das Leben ging vorbei, fast ohne dass man je einmal über die elementaren Dinge nachdachte, Einsamkeit, Sehnsucht, Leidenschaft und Tod. Die Stille war tief und weit und wurde nur manchmal vom Heulen der Schakale zerschnitten, und Joav war voller Dankbarkeit für diese Stille und auch für das Heulen der Schakale. Er glaubte nicht an Gott, aber in Momenten der Einsamkeit und der Stille, so wie jetzt, in dieser Nacht, schien es Joav, als würde jemandauf ihn warten, Tag und Nacht, schweigend und geduldig, still und ruhig und immerfort.
    Als er langsam, die Waffe über der Schulter, vom Kühlhaus zum Düngerschuppen ging, löste sich plötzlich ein schmaler Schatten aus dem Schatten der Wand und eine in einen dünnen Mantel gehüllte Gestalt versperrte ihm den Weg. Eine tiefe, angenehme, etwas heisere Frauenstimme sagte: »Erschreck nicht, Joav, ich bin es, Nina. Ich habe darauf gewartet, dass du hier vorbeikommst. Ich wusste, dass du hier vorbeikommen wirst. Ich muss dich etwas fragen.«
    Joav wich zurück, bemühte sich, in der Dunkelheit etwas zu sehen, fasste Nina am Arm, zog sie unter die nächste Laterne und fragte besorgt, ob ihr nicht kalt sei und wie lange sie schon hier allein warte. Nina war eine junge Frau, die bei uns dafür bekannt war, dass sie fest auf ihren Standpunkten bestand. Sie hatte grüne Augen, lange Wimpern und einen schmalen, entschlossenen Mund. Ihre Stirn glänzte in der Dunkelheit, und ihre hellen Haare waren kurzgeschnitten.
    »Sag mir, Joav, was würdest du tun, wenn du dein ganzes Leben lang jeden Tag mit jemandem zusammensein und jede Nacht neben jemandem schlafen müsstest, der dir zuwider ist. Der dir schon seit Jahren zuwider ist,was er redet, wie er riecht, wie er lacht, wie er sich kratzt, wie er rülpst, wie er hustet, wie er schnarcht, wie er sich in der Nase bohrt. Alles. Was würdest du tun?«
    Joav legte ihr die Hand auf den Arm. »Erzähl mir genau, was passiert ist, Nina.«
    Im Licht der Laterne sah er, dass ihr Gesicht blass und angespannt war, doch ihre müden grünen Augen blickten ihn direkt an und waren ohne Tränen. Sie presste die Lippen zusammen und sagte: »Nichts ist passiert. Er diskutiert sogar mit der Nachrichtensprecherin im Radio.«
    Und dann sagte sie: »Ich kann nicht mehr.«
    »Vielleicht warten wir bis morgen? Komm morgen zu mir ins Büro, dann werden wir reden, ja? Es gibt Dinge, die sehen in der Nacht schrecklich aus, bei Tag aber ganz anders.«
    »Nein, ich kehre nicht zu ihm zurück. Nicht heute Nacht und niemals. Gib mir noch heute Nacht eine Unterkunft, Joav. Selbst wenn es in einer Baracke oder einem Schuppen ist. Bestimmt hast du irgendein leerstehendes Zimmer.«
    »Erzähl mir, was passiert ist.«
    »Da gibt es nichts zu erzählen. Ich kann nicht mehr.«
    »Und die Kinder?«
    »Die Kinder werden jeden Nachmittag vom Kinderhaus direkt zu mir kommen, sie werden zu dem Zimmer kommen, dass du mir geben wirst.«
    Es war Joav nicht angenehm, mit Nina in dem schmalen Durchgang zwischen dem Kühlhaus und dem Düngerschuppen im schwachen Licht der Laterne zu sprechen. Wenn jemand vorbeikäme und sie so heimlich miteinander reden sähe, würde morgen ein ungeheures Gerede entstehen. Er sagte mit Nachdruck: »Nina, entschuldige, ich kann eine derartige Angelegenheit nicht mitten in der Nacht lösen. Ich habe schließlich keine Zimmer in der Hosentasche. Ich bin nicht derjenige, der die Zimmer verteilt. Das muss im zuständigen Ausschuss beschlossen werden. Und ich habe Wachdienst. Geh jetzt bitte schlafen, morgen werden wir uns treffen und gemeinsam eine Lösung finden.«
    Doch noch während er das sagte, rebellierte er innerlich, er überlegte es sich anders und sagte: »Komm mit mir. Wir gehen zum Sekretariat. Dort hängt der Schlüssel zu dem Zimmer für Gastdozenten. Dort kannst du heute Nacht schlafen. Morgen kommst du dann zu mir ins Büro, dann schauen wir, was sich tun lässt. Und ich werde morgen auch mit Avner sprechen.«
    Sie beugte sich vor, umfasste mit beiden Händenseine Hand, zog sie an sich und drückte sie fest. Joav war verlegen und errötete sogar etwas. Nina war eine anziehende Frau und schon mehr als einmal in seinen geheimsten Phantasien aufgetaucht. Als Siebzehnjähriger war er in sie verliebt gewesen, hatte aber nicht gewagt, sich ihr zu nähern. Während seiner Schulzeit war Joav ein in sich gekehrter, schüchterner Junge gewesen, und schon damals hatten sich die Jungen,

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