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Unter Freunden

Unter Freunden

Titel: Unter Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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aufgehört, orthodox zu sein, sie haben nur die eine Frömmigkeit gegen eine andere getauscht. Marx ist ihr Talmud, die Vollversammlung ist ihre Synagoge, und David Dagan ist der Rabbiner. Es gibt hier einige, die ich mir leicht mit Bart und Schläfenlocken oder einem züchtigen Häubchen auf dem Kopf vorstellen kann. Aber die Zeiten werden sich nach und nach ändern, und statt der Orthodoxen werden Menschen wie du kommen, Joav, die gelassener sind als die Veteranen der Gründergeneration, Menschen, die Geduld und Zweifel und Erbarmen haben.«
    »Aber du siehst mich vollkommen falsch, Nina. Ich habe auch Prinzipien, an denen ich festzuhalten versuche. Auch in meinen Augen kann es keinen Kibbuz ohne Rahmen, Regeln und Prinzipien geben. Tiermedizin, ja, vielleicht ist das eine gute Idee. Das passt auch viel besser zu Jotam als Maschinenbau. Ja. Vielleicht. Aber nicht jetzt. In zwei Jahren. Wenn er an der Reihe ist zu studieren. Das kann ich vielleicht bei der Versammlung am Samstag vorschlagen. Kein Maschinenbaustudiumund nicht jetzt gleich, sondern Tiermedizin in zwei Jahren.«
    »In einem?«
    »Das wird schwer werden. Es wird in der Versammlung zu einer Entscheidungsschlacht kommen. David Dagan wird sich auf die Hinterbeine stellen. Die älteren Kibbuzmitglieder werden aus Prinzip dagegen sein, die finanzielle Unterstützung des Onkels anzunehmen, sie verabscheuen Arthur, und die Jüngeren werden sich wohl spalten, die einen werden dafür, die anderen dagegen stimmen. Es wird schwer und kompliziert werden, Nina.«
    Am Samstag, dem Tag, an dem in der Vollversammlung über Jotams Studium in Italien diskutiert und abgestimmt werden sollte, erschien David Dagan morgens in Jotam Kalischs Zimmer. Jotam war spät aufgewacht und noch immer in Unterhemd und Unterhose. Er zog mit seinen riesigen Händen das Laken über seinen Unterkörper, um seine morgendliche Erektion zu verbergen. David Dagan trug eine gebügelte Khakihose und ein kurzärmliges hellblaues Hemd, in dessen Brusttasche drei Kugelschreiber strammstanden. Seine Haltung war sehr aufrecht, fast militärisch, die kräftigen,eckigen Schultern waren nach hinten gedrückt. Seine silbrigen Haare waren etwas wirr, nicht wirklich wild, sondern auf eine maßvolle Art verwegen. David, der vor Jahren Jotams Erzieher im Schülerwohnheim gewesen war, wünschte ihm einen schönen Schabbat und setzte sich auf den Rand des zerwühlten Bettes. Jotam zögerte, schlüpfte dann unbeholfen im Schutz des Lakens in seine Arbeitshose, die er vom Boden gefischt hatte, und beugte sich vor, um den Ventilator anzuschalten. David schaute prüfend zu, und als Jotam dann vor ihm stand, deutete er auf einen der Korbhocker. Jotam gehorchte und setzte sich.
    »Ich mache mir Sorgen«, eröffnete David Dagan ohne Umschweife das Gespräch, »um Henja. Sie wird das alles nur schwer überstehen. Du hast deine Mutter in eine schwierige Situation unserer Gemeinschaft gegenüber gebracht.«
    Jotam schwieg und schaute aus dem Fenster.
    »Und dabei hat man mir gesagt, dass du ein ausgezeichneter Plantagenarbeiter bist.«
    Jotam schwieg weiter.
    »Du willst Maschinenbauingenieur werden?«
    »Nein, eigentlich nicht, aber …«
    »Aber es ist dir hier zu eng und stickig, die große Weltlockt dich«, sagte David, ohne Fragezeichen am Schluss seiner Worte. »Du wirst dich wundern, auch mich lockt die große Welt. Ich würde gern mal Rom sehen, Florenz, Venedig, Neapel.«
    Jotam zog die Schultern hoch.
    David legte ihm eine Hand aufs Knie und sagte ruhig: »Aber jeder Jude, dessen Generation die Shoah und die Aufbaujahre des Staates Israel erlebt hat, jeder einzelne von uns muss sich als Mensch sehen, der seine Pflicht zu tun hat. Es sind die kritischsten Jahre in der Geschichte des jüdischen Volkes.«
    Jotam sagte: »Es ist so: Ich kann nicht mehr. Ich bekomme keine Luft.«
    David schwieg und betrachtete Jotam neugierig und freundlich. Schließlich sagte er: »In Ordnung. Dann fahr.« Und er fügte hinzu: »Gib mir nur einen Moment, um Ordnung in die Sache zu bringen. Ich habe beschlossen, heute Abend der Vollversammlung vorzuschlagen, dass man dir einen Sonderurlaub von zwei, drei Wochen gewährt, unter Berücksichtigung einer persönlichen Krise. Fahr nach Italien. Fahr zu deinem Onkel. Hol ein wenig Luft. Du wirst danach mit frischer Kraft zu deiner Arbeit zurückkehren.«
    Jotam versuchte etwas zu sagen, aber David Daganlegte ihm väterlich die Hand auf die Schulter und unterbrach ihn: »Denk bitte

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