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Unter goldenen Schwingen

Unter goldenen Schwingen

Titel: Unter goldenen Schwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Luca
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Schluck Tee.
    »Er war groß und blond und hatte hellbraune Augen. Er war nur ein wenig älter als ich. Kennen Sie vielleicht einen Besucher, auf den diese Beschreibung passt?«
    Der Friedhofswärter blickte mich mit einem durchdringenden Ausdruck an. »Nicht, dass ich wüsste.«
    Enttäuscht sank ich zurück. »Er hat mir das Leben gerettet«, sagte ich leise.
    Kaster erwiderte nichts. Er stellte die Tasse auf den kleinen Tisch, und blickte aus dem Fenster.
    »Es wird bald dunkel«, bemerkte ich. »Ich sollte gehen. Ich möchte mir noch das Wrack ansehen.«
    »Warum kommst du nicht morgen wieder und siehst es dir bei Tageslicht an? Jetzt sieht man kaum noch etwas.«
    »Es ist noch hell genug. Außerdem brauche ich nicht lange.«
    »Warum verschiebst du die Besichtigung nicht auf ein anderes Mal?«
    Ich sah Kaster direkt an. »Wollen Sie nicht, dass ich jetzt zum Wrack gehe?«, fragte ich stirnrunzelnd.
    »Im Halbdunkel neben der Straße ist es gefährlich. Die Autofahrer könnten dich leicht übersehen.«
    »Es ist doch kaum ein Mensch unterwegs. Und wenn ich mich nicht beeile, wird es wirklich noch zu dunkel.« Ich stellte meine Tasse ab und erhob mich. »Vielen Dank für den Tee. Und dafür, dass Sie mir meinen Anhänger zurückgegeben haben.«
    »Du solltest ihn tragen«, sagte Kaster.
    Ich nickte aus Höflichkeit.
    »Ich meine, du solltest ihn jetzt sofort tragen.«
    »Wieso?«, fragte ich, ein wenig irritiert.
    Kaster nahm mir den Anhänger aus der Hand und legte ihn um meinen Hals. »Weil die Autofahrer in der Dunkelheit dort draußen gefährlicher sein können als du denkst.«
     
    Als ich durch das nasse Gras neben der Fahrbahn stapfte, konnte ich mich nicht entscheiden, ob Kaster ein außergewöhnlich einfühlsamer Mensch war, oder ein schrulliger Spinner.
    Wahrscheinlich ist er ein bisschen von beidem , dachte ich.
    Die schwarze Friedhofsmauer neben mir wirkte wie eine stumme, düstere Schranke, die mich von den Tausenden Toten dahinter trennte. Das bedrohliche Gefühl, das ich seit dem Unfall nicht mehr gespürt hatte, kehrte zurück.
    »Komm schon«, flüsterte ich mir selbst zu. »Reiß dich zusammen.«
    Als ich die Unfallstelle erreichte, blieb ich einige Schritte vom Wrack entfernt stehen.
    Das Ausmaß des Unfalls zu sehen, versetzte mir einen regelrechten Schock. Von dem Auto war kaum noch etwas übrig. Die Karosserie war vollständig deformiert, ein Großteil der Beifahrerseite war abgetrennt, die Rückbank war vollkommen zerquetscht, und das Dach fehlte – es lag in mehreren Trümmern in einiger Entfernung im Straßengraben.
    Fassungslos trat ich näher an das Wrack heran, um es genauer zu betrachten. Das einzig Unversehrte daran war der Fahrersitz, obwohl das bei dem Zustand des Wagens vollkommen unverständlich war.
    Genau genommen war es unmöglich .
    Ich ließ meinen Blick weiter über das Wrack wandern. Der verbogene Rückspiegel hing noch immer so, wie ich ihn gesehen hatte, als ich meine Augen nach dem Unfall geöffnet hatte. Ein Teil des Rahmens der Windschutzscheibe war zur Seite gebogen und ich ließ meine Hand über das deformierte Metall gleiten. Es hatte genau die schiefe Form, die ich in Erinnerung hatte. Wie ich jetzt sah, war dadurch mehr Platz an der Fahrerseite geschaffen worden. Ich versuchte, das kalte Metall zu verbiegen – doch es gab keinen Millimeter nach.
    Das Lenkrad und der Airbag waren herausgerissen worden. Ich sah mich um und entdeckte den Lenkradblock in einiger Entfernung neben der Mauer. Lose Kabel hingen aus dem ruinierten Armaturenbrett. Ich betrachtete die Kanten, an denen das Dach abgetrennt worden war, und berührte vorsichtig das abgerissene Metall. Es war hart, kalt und scharf. Obwohl ich wusste, was ich erlebt hatte, schien es mir jetzt unmöglich, dass ein Mensch das Dach aufgerissen haben sollte.
    Plötzlich hörte ich ein herannahendes Auto. Ich drehte mich um und hob schützend meine Hände vor die Augen, als die Scheinwerfer mich blendeten. Der Wagen schwenkte an den Straßenrand und blieb stehen.
    Rockmusik dröhnte aus dem Auto, als die Wagentüren aufgerissen wurden. Die Scheinwerfer strahlten das Wrack direkt an.
    Aus dem Auto stiegen drei Männer, die sich über die laute Musik hinweg etwas zubrüllten.
    »Hab ich’s euch nicht gesagt?«, grölte einer von ihnen und torkelte auf das Wrack zu.
    Seine Freunde lachten und pfiffen anerkennend. Alle drei hielten Bierflaschen in ihren Händen.
    Ich wich zurück und sah mich um. Die Landstraße war

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