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Unter goldenen Schwingen

Unter goldenen Schwingen

Titel: Unter goldenen Schwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Luca
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winkte ab. »Seit Juni kommst du jeden Tag hierher. Meinst du, da entgeht mir eine so große Veränderung an dir?«
    Kaster war immer freundlich zu mir gewesen, doch ich hatte mir nie Gedanken über den alten Friedhofswärter gemacht. Ich war unter meinen eigenen Problemen begraben gewesen, überzeugt davon, völlig alleingelassen zu sein. Möglicherweise hatte ich mich in diesem Punkt geirrt.
    »Sie sagten, Sie wüssten, wonach ich suche?«
    Kaster richtete sich auf und stellte seine Tasse zurück auf den Tisch. »So ist es. Ich bin gleich wieder da.« Er erhob sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit und verschwand in einem Hinterzimmer.
    Ich lehnte mich in die Kissen zurück. Die leise Musik aus dem Radio, das hin und wieder knackte, der Duft des Pfefferminztees und die vielen persönlichen, liebevoll angesammelten Dinge, die mich umgaben – ich stellte fest, dass ich mich in diesem kleinen Wohnzimmer viel mehr zu Hause fühlte, als ich es in den letzten Monaten in der Wohnung meiner Eltern getan hatte.
    Kaster kehrte zurück ins Wohnzimmer. Er nahm meine Hand und legte etwas hinein. Seine Hände fühlten sich rau und schwielig an.
    Ich blickte auf das golden glitzernde Etwas auf meiner Handfläche.
    »Ist es das, was du holen wolltest?«
    Ich strich mit meinen Fingern über den kleinen goldenen Flügel und nickte.
    »Dein Glücksbringer?«, fragte Kaster leise.
    »Der Glücksbringer meiner Mutter. Wo haben Sie ihn gefunden?«
    »Ich war gestern Abend an der Unfallstelle. Der Anhänger hing im Wrack. Ich dachte mir, dass du ihn wiederhaben möchtest.«
    »Danke«, sagte ich leise. Dann sah ich ihn hoffnungsvoll an. »Haben Sie den Unfall gesehen?«
    Kaster schüttelte den Kopf. »Ich habe die Sirenen der Einsatzfahrzeuge gehört, da bin ich hingelaufen. Sie waren gerade dabei, dich in den Rettungswagen zu heben.«
    »War sonst noch jemand dort?« Das Drängen in meiner Stimme war unüberhörbar.
    »Selbstverständlich. Sanitäter, ein Notarzt, und als ich ankam, war die Polizei schon eingetroffen. Sie waren gerade dabei, mit einem Mann zu sprechen …«
    Ich erstarrte. »Erinnern Sie sich an den Mann? Wie hat er ausgesehen?«
    »Er war ungefähr in meinem Alter. Trug einen dunklen Mantel und eine Brille.«
    Meine Hoffnung sank. »Das war wohl Herr Baumann«, murmelte ich enttäuscht. »Er hat den Krankenwagen gerufen.«
    »Ja, das war Herr Baumann.«
    »Sie … kennen ihn?«
    »Er kommt jeden Monat am 28. hierher. Es ist der Todestag seiner Frau. Sie ist vor sieben Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.«
    Ich sah Kaster dabei zu, wie er mir Tee nachschenkte, und fragte mich, ob dieser alte Mann jeden Friedhofsbesucher mit solcher Aufmerksamkeit bedachte wie Herrn Baumann und mich.
    »Er war der einzige Besucher gestern Nachmittag«, brummte Kaster. »Scheußliches Wetter. Baumann ist gegangen, als ich gerade dabei war, die Tore zuzusperren. Ich habe ihm geraten, nicht den üblichen Weg zu nehmen, sondern durch das Industriegebiet zu fahren.«
    »Tatsächlich?«, sagte ich überrascht. »Das war mein Glück. Sonst hätte man mich nicht so schnell gefunden.«
    Ein eigentümlicher Ausdruck trat in Kasters Augen.
    »Als Sie sagten, Sie wüssten, wer mich gerettet hat, haben Sie da Herrn Baumann gemeint?«, fragte ich.
    »Das habe ich so nie gesagt«, brummte Kaster. »Ich habe gesagt, ich wüsste, dass du denjenigen suchst , der dich gerettet hat. War es denn Baumann?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mich nicht aus dem Wrack gezogen.«
    Kaster lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Tee. Sein Schweigen ermunterte mich, weiterzusprechen.
    »Da war noch ein anderer Mann«, sagte ich langsam. »Er war es, der mich aus dem Wrack gezogen hat.« Obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich mit Kaster reden konnte, ließ ich vorsichtshalber den Teil mit dem Verbiegen und Zerreißen der Karosserie aus.
    »Ein anderer … Mann?«
    »Leider konnte ich bis jetzt nicht herausfinden, wer er ist.« Ich war von Kasters eigentümlichem Tonfall ein wenig irritiert. »Bei der Polizei und der Rettungszentrale gibt es keine Spur von ihm.« Weil ihn außer mir anscheinend keiner gesehen hat, fügte ich in Gedanken hinzu. Noch ein kleines Detail, das ich vorsichtshalber nicht erwähnte.
    »Willst du denn herausfinden, wer er ist?«
    Ich irrte mich nicht. Kaster fragte das unbekümmert, doch da war dieser eigenartige unterschwellige Klang in seiner Stimme.
    »Mehr als alles andere«, sagte ich.
    »Ich verstehe.« Er nahm noch einen

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