Unter goldenen Schwingen
Kasters klare blaue Augen. »Glück? Das war mehr als Glück.« Er deutete auf sein Haus. »Wir sollten uns unterhalten. Ich habe gerade Wasser aufgesetzt.«
»Danke, aber ich möchte mir das Wrack anschauen. Ich muss etwas holen …«
»Es bleibt noch mindestens eine Stunde hell«, unterbrach er mich. »Du hast genug Zeit.« Er machte sich auf den Weg zu seinem Haus und ging wie selbstverständlich davon aus, dass ich ihm folgte.
Ich zögerte und warf einen Blick die Straße hinunter Richtung Unfallstelle. Eigentlich wäre ich lieber sofort dorthin gelaufen, doch ich wollte nicht unhöflich sein. Der alte Mann war immer freundlich zu mir gewesen, und – wie mir bewusst wurde – viel Gesellschaft hatte er hier draußen wirklich nicht.
»Ich glaube, ich weiß schon, was du suchst«, bemerkte Kaster über die Schulter hinweg.
»Meinen Anhänger? Woher wissen Sie …?«
»Ja, den auch, aber den meine ich nicht. Du suchst den, der dich gerettet hat.« Er hielt mir die Tür auf. »Pfefferminztee?«
Ich war bisher nie in dem Haus gewesen und ich war überrascht, wie einladend und gemütlich es war. An den Wänden hingen Bilder von Naturlandschaften und die Regale waren vollgestopft mit Büchern und Pflanzen. Das Erdgeschoss bestand nur aus einem kleinen Wohnzimmer mit einer winzigen Küche in einer Ecke. Mitten im Zimmer stand eine Couch mit einer bunten Steppdecke und vielen Kissen darauf und einem kleinen Tisch davor. Aus dem uralten Radio auf dem Fensterbrett klang leise Musik. Der Wasserkessel auf dem Herd pfiff, und Kaster nahm ihn vom Feuer.
Während der alte Mann Tee aufgoss, sah ich mir die Bilder an den Wänden an.
»Woher haben Sie die?«
»Selbst gemalt.« Kaster stellte die Teekanne und zwei Teetassen auf den kleinen Wohnzimmertisch. »Nimm doch Platz. Zucker?«
»Nein danke.« Ich ließ mich auf das Steppdeckensofa sinken und sah ihm zu, verwundert darüber, wie geschickt seine groben Hände mit den zierlichen Teetassen hantierten.
»Was hat dich denn dazu gebracht, den Bus gegen ein Auto zu tauschen?«
»Es war ein Geschenk meines Vaters.«
»Ein großzügiges Geschenk«, brummte Kaster.
Ich zuckte mit den Schultern und wich Kasters Blick aus. »Gestern war mein Geburtstag.«
»Dann herzlichen Glückwunsch! Du hattest gestern in doppelter Hinsicht Geburtstag, wenn du mich fragst.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also nahm ich einen Schluck Tee.
»Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was hat dich dazu gebracht, trotz des schrecklichen Unwetters mit dem Auto zu fahren? Du bist doch keine geübte Fahrerin, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt war das meine erste Fahrt.«
Kaster lachte nicht. Er sah mich nur nachdenklich an. »Wer hat vorgeschlagen, dass du das Auto nehmen sollst?«
Merkwürdige Frage, dachte ich. »Niemand. Aber mein Vater musste arbeiten, also … «
»Er hat dich allein gelassen?«
Etwas in Kasters entrüstetem Ton traf mich unvorbereitet. Ich starrte auf das Bild eines großen Bergs mit weißer Schneekuppe. »Er hat … viel zu tun im Büro …« Ich begann automatisch mit Erklärungen und Entschuldigungen, doch Kaster machte eine abwinkende Handbewegung.
»Er hat dich allein gelassen«, wiederholte er.
Meine Augen brannten. Ich kämpfte die aufsteigenden Tränen zurück und suchte verlegen Kasters Blick. Was ich sah, überraschte mich. Es lag kein mitleidiger Ausdruck auf seinem Gesicht.
Seine blauen Augen waren lebendig und tief, eine Tiefe, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Sie erinnerte mich an die hellbraunen Augen eines anderen, viel jüngeren Mannes.
»Ich wollte den Bus nehmen«, sagte ich mit belegter Stimme. »Doch es gab eine Störung wegen des Regens.«
»Warum bist du nicht zurück nach Hause gegangen?«, fragte Kaster ruhig.
»Ich … konnte nicht.«
»Warum nicht?«
Die grauenhaften Gedanken, die mich in der Wohnung überkommen hatten, das Gefühl, verfolgt zu werden, die Ahnung, dass mir etwas im Nacken saß – ich brachte es nicht über mich, Kaster davon zu erzählen.
»Ich musste einfach mit dem Wagen fahren«, sagte ich leise. »Ich konnte nicht anders. Alles war so …«
»Ausweglos?«
Ich nickte langsam. Dann nahm ich noch einen Schluck Tee. Er schmeckte frisch und süß.
»Wie ist es jetzt?«, fragte Kaster plötzlich. »Die Dunkelheit? Ist sie nach dem Unfall besser geworden?«
»Ja«, sagte ich zögernd. »Es ist viel besser.«
»Habe ich mir gedacht.«
»Woher …?«
Doch er
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