Unter goldenen Schwingen
UNWAHRSCHEINLICHE THEORIE
»Du hast selbst gesagt, ich soll Auto fahren«, scherzte ich halbherzig.
»Ja, in die Schule , nicht in eine Mauer !« Anne gestikulierte wild mit den Händen. »Überhaupt, seit wann hörst du denn auf das, was ich sage?«
Anne hatte darauf bestanden, mich bei der Busstation zu treffen. Jetzt verbrachte sie den halben Schulweg damit, sich dafür zu entschuldigen, dass sie böse auf mich gewesen war, weil ich nicht zur Party erschienen war, und die andere Hälfte damit, mich über den Unfall auszufragen.
Ich versuchte, die ganze Sache herunterzuspielen. »Es war eben nass, und der Wagen ist von der Fahrbahn gerutscht.«
Die Tatsache, dass ein Fremder das Wrack in Stücke gerissen hatte, um mich zu befreien, ließ ich aus.
»Es ist nichts passiert, siehst du? Es geht mir gut.«
»Aber du warst im Krankenhaus!«
»Doch nur für eine Nacht.«
»Und es geht dir ehrlich gut?«
»Ein bisschen Kopfweh, das ist alles.« Mein Kopf schmerzte tatsächlich ziemlich, seit ich überfallen worden war, und der widerliche dicke Kerl mich gegen die Motorhaube geschleudert hatte. Diese Details ließ ich Anne gegenüber jedoch ebenfalls aus. Mein Bauchgefühl riet mir, niemandem von alldem zu erzählen. Nicht, bevor ich herausgefunden hatte, was hier vor sich ging.
Und dann möglicherweise erst recht nicht , sagte eine kleine Stimme in meinem Kopf, die ich ignorierte.
»Meinst du, dein Vater schenkt dir nochmal ein Auto?«, fragte Anne sehnsüchtig, und warf einen Blick auf die A-Liga, die gerade aus den BMW ihrer Studentenfreunde ausstieg.
»Nicht nötig«, sagte ich, und umklammerte in meiner Jackentasche den Schlüssel mit der Plastikverschalung, der an meinem Schlüsselbund hing. »Ich habe schon eines.«
Den ganzen Tag über grübelte ich, wie ich Kaster dazu bringen konnte, mir von dem blonden Fremden zu erzählen. Es war zum Verrücktwerden. Ich wusste nichts über ihn, und Kaster, der Einzige, der etwas zu wissen schien, weigerte sich, sein Wissen mit mir zu teilen.
Ich blendete Herrn Schulz‘ Mathematikvortrag aus und kritzelte frustriert auf meinem Block herum.
›Es liegt nicht an mir, dir das zu sagen‹, hatte Kaster gesagt.
Nicht an ihm? dachte ich. Dann an jemand anderem? Nur an wem?
Als ich nach der letzten Stunde meine Bücher einpackte, war ich so sehr in meine Gedanken vertieft, dass ich Annes gezischte Lästereien über die A-Liga nur mit einem Ohr verfolgte.
» … du ihre Jeans gesehen? Wie kann man nur so etwas anziehen, hat die keinen Spiegel zu Hause …«
Ich brummte vage und spielte gedankenverloren mit dem goldenen Flügel an meinem Hals. Vielleicht konnte ich aus Kaster herauslocken, wen ich fragen konnte, wenn er mir schon nicht helfen …
» … die Frisur, eine Katastrophe, der möchte ich nicht im Dunkeln begegnen, so wie die aussieht.«
Ich erstarrte und hielt den Anhänger plötzlich fest umklammert. »Was hast du gerade gesagt?«
Anne runzelte die Stirn. »Dass die Frisur furchtbar ist und …«
»Nein«, drängte ich. »Danach. Im Dunkeln … ?«
»Dass ich ihr nicht im Dunkeln begegnen möchte«, wiederholte Anne. »Das ist doch nur so ein Ausdruck, Vic. Meine Oma sagt das immer – egal, es bedeutet, dass man etwas so grässlich findet, dass es einem Angst …«
»Ich weiß, was es bedeutet«, unterbrach ich sie.
Mir war bei Annes Worten über unheimliche Gestalten im Dunkeln plötzlich etwas klar geworden: Ich trug diesen goldenen Flügel um den Hals, weil Kaster gestern darauf bestanden hatte. Dann war ich in der Dämmerung überfallen worden und mein blonder Retter war aufgetaucht – konnte sein Auftauchen etwas mit dem Anhänger zu tun haben? Hatte Kaster deshalb darauf bestanden, dass ich die Kette trug? Mir fiel nur ein Mensch ein, dem ich diese Frage stellen konnte.
»Hör mal, fahr heute ohne mich heim.« Ich schnappte meine Tasche und meine Jacke. »Ich muss noch schnell zu Wagner.«
»Zu Wagner? Wozu?«
»Ich muss ihn etwas fragen«, rief ich über die Schulter und lief den Gang hinunter. »Bis morgen!«
»Warte!«, rief Anne mir hinterher, doch ich war bereits im Treppenhaus verschwunden.
Ich drängte mich an den Schülern vorbei, die mir entgegenströmten, und schob mich den Gang entlang bis zum Physiksaal. Herr Wagner saß allein an seinem Schreibtisch und blätterte Papiere durch. Als ich zu ihm trat, blickte er auf.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«
»Für dich immer.« Wagner schob die Papiere zur Seite. Ich sah, dass es
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