Unter goldenen Schwingen
»Schließlich hat der Traum dazu beigetragen, dass du jetzt mit mir hier stehst.«
Sein angespannter Gesichtsausdruck wich einem atemberaubenden Lächeln. »Schicken wir ihnen gemeinsam einen Geschenkkorb?«
Meine Wangen glühten. Ich starrte zu Boden, wo das Regenwasser in kleinen Bächen um uns herumlief.
»Dann hast du nichts dagegen?«, murmelte ich zu meinen Schuhspitzen. »Mit mir hier zu sein?«
»Doch. Es ist schrecklich.« Er lachte leise. Dann wurde seine Stimme ein Flüstern. »Es gibt niemanden, mit dem ich lieber zusammen wäre.«
Mein Kopf glühte wie ein roter Leuchtturm. Ich setzte dazu an, etwas zu sagen, doch ich brachte kein Wort heraus.
»Was ist denn los?« Seine Stimme war leise und aufmunternd.
»Warum?«, murmelte ich. »Warum bist du gerne mit mir zusammen?«
Er lachte leise. »Was ist denn das für eine Frage?«
Ich zuckte mit den Schultern und guckte weiterhin auf meine Schuhe. Regentropfen sprenkelten das Leder. »In der letzten Zeit … war ich, glaube ich, keine besonders gute Gesellschaft. Außer man steht auf ›traurig und deprimiert‹.«
»Du hast etwas Furchtbares durchgemacht. Aber das bist nicht du.« Nathaniels Stimme klang sanft. Er hob behutsam mein Kinn, damit ich ihn ansah. »Du warst mutig genug, alles durchzustehen. Du hast niemals aufgegeben.«
Die Bewunderung in seiner Stimme ließ mich seinem Blick verlegen ausweichen.
» Ich kenne dich, Victoria. Dein wahres Ich.«
»Mein wahres Ich?«, fragte ich leise.
Er lächelte. »Du magst Malagaeis, aber nur das ohne Rosinen. Du hast ›Dirty Dancing‹ so oft gesehen, dass du die Dialoge mitsprechen kannst – doch das tust du nur, wenn du denkst, dass niemand zuhört. Anne nervt dich mit ihrem Shoppingtick, aber du liebst sie wie eine Schwester. Dein Lachen ist wundervoll und ansteckend.« Er schwieg für einen Moment. »In der letzten Zeit habe ich dein Lachen vermisst.«
»Das alles weißt du?«, fragte ich scheu.
»Und noch viel mehr. Wenn du an eine Sache glaubst, dann setzt du dich leidenschaftlich dafür ein. Du glaubst daran, die Dinge ändern zu können, selbst wenn andere längst die Hoffnung aufgegeben haben. Und wenn du liebst, dann liebst du bedingungslos.«
Ich fühlte, wie mein Herz heftiger schlug.
»Ich war immer an deiner Seite, Victoria«, sagte Nathaniel leise.
»Obwohl ich dich nicht einmal wahrnehmen konnte?«
»Das war nicht wichtig.« Seine Stimme nahm plötzlich einen seltsamen Klang an. »Diese Hoffnung habe ich mir nie erlaubt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Vor 24 Stunden wusste ich noch nicht einmal, dass es dich überhaupt gibt, und jetzt kann ich mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen.«
Nathaniel setzte zu einer Antwort an, doch entschied sich im letzten Moment, zu schweigen. Stattdessen strich er mir sanft durch die Haare, und das Glitzern in seinen Augen machte mich sprachlos.
Unser erster gemeinsamer Nachmittag verlief tatsächlich so, als würden wir uns ewig kennen. Nathaniel saß auf meinem Bett und blätterte in meinen Büchern, während ich halbherzig Hausaufgaben machte. Es war fast normal, fast so, wie mit einem besten Freund abzuhängen. Abgesehen von der Tatsache, dass seine Flügel quer über mein Bett ausgebreitet waren und bis zum Boden reichten.
Als ich meinen Aufsatz fertiggestellt hatte, bat er darum, dass ich ihn ihm vorlas. Er machte ein paar Änderungsvorschläge, über die wir uns unterhielten, dann begannen wir über die Charaktere zu scherzen und schließlich erfanden wir noch ein neues Ende für die Geschichte. Wir lachten viel und ich bemerkte nicht, wie die Zeit verging – bis es plötzlich später Abend war.
Als ich aus dem Bad zurückkam, nach einer heißen Dusche und bettfertig, saß er in meinem bequemen alten Couchsessel, die Beine übergeschlagen und die Finger an seine Schläfe gestützt. Ich setzte mich auf mein Bett und zog mir die Decke über die Beine. Der Lichtschein der kleinen Nachttischlampe tauchte mein Zimmer in sanftes Halbdunkel. »Hast du vor, die ganze Nacht dort zu sitzen?«, fragte ich leise.
Nathaniel saß halb verdeckt im Dunkeln und ich konnte seine Augen kaum sehen. Dem matten Schimmer seiner Haut entnahm ich eine kleine Bewegung. Er nickte.
»Schläfst du eigentlich nie?« fragte ich.
»Nie«, erklang seine samtene Stimme aus dem Schatten.
Ich schwieg und rückte verlegen meine Kissen zurecht. Dann legte ich mich auf die Seite, zog mir die Decke über den Körper und schaltete das kleine Nachtlicht
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