Unter goldenen Schwingen
aus. Es war jetzt fast vollkommen dunkel in meinem Zimmer, denn von der Straße fiel kaum Licht herein.
»Danke, dass du hierbleibst«, murmelte ich. »Es ist bestimmt langweilig für dich.« Ich verdrehte die Augen, obwohl ich wusste, dass er mich nicht sehen konnte.
»Ich langweile mich nie, mach dir bitte keine Sorgen«, erwiderte er und seine Stimme verriet mir, dass er lächelte. »Es ist wirklich in Ordnung, also schau nicht so ernst.«
»Du kannst mich sehen?«, fragte ich verdutzt.
»Klar und deutlich«, kam seine amüsierte Antwort aus der Ecke.
»Engel müssen gute Augen haben«, brummte ich.
»Genau genommen habe ich gar keine Augen.«
Die Nachttischlampe war auf der Stelle wieder an.
» Was? «, stieß ich hervor, meine Finger noch am Lichtschalter. Ich starrte ihn an, doch sein Gesicht lag im Halbschatten verborgen. Ich verstand nicht, was er meinte – seine wunderschönen Augen waren meine erste und intensivste Erinnerung an ihn. In ihnen war ich auf der Straße liegend versunken und daran hatte ich ihn in der Kirche wiedererkannt, als ich ihn zum ersten Mal in seiner wahren Gestalt wahrgenommen hatte.
»Victoria … « Plötzlich saß er neben mir auf dem Bettrand. Behutsam legte er seine Hand auf meine. Seine Augen blickten mich wieder mit dem Ausdruck an, den ich so liebte. »Ich wusste nicht …«, begann er, doch dann verstummte er.
Ich schämte mich und wich seinem Blick aus, denn er hatte meine Gedanken gehört. Er hatte nicht gewusst, was seine Augen mir bedeuteten – ich war mir sicher, dass es das war, was er hatte sagen wollen.
»Victoria?«, flüsterte er nochmals mit sanfter Stimme.
Ich spürte, dass er meinen Blick suchte, doch ich starrte weiterhin auf mein Kissen. »Hm«, brummte ich, zum Zeichen, dass ich ihn gehört hatte.
»Alles, was du in meinen Augen gesehen hast, war echt«, sagte er leise. »Ich wollte vorhin nur sagen, dass ich, genau genommen, keinen wirklichen Körper habe. Deshalb haben auch Türen keine Bedeutung für mich, und deshalb unterscheide ich auch nicht zwischen Helligkeit und Dunkelheit.«
Ich schwieg einen Moment. »Hm«, brummte ich schließlich.
Er hielt meine Hand. »Aber das heißt nicht, dass meine Berührung dich nicht trösten kann, dass meine Flügel dich nicht beschützen können, und dass meine Augen dir nicht Geborgenheit schenken können. Diese Gestalt ist nur der Ausdruck meines inneren Wesens – und das existiert wirklich.«
»Warum hast du dann diesen Körper?«, murmelte ich.
»Ich dachte, das wäre offensichtlich«, erwiderte er. »Weil du mich sehen kannst.«
Ich blickte ihn zweifelnd an. »Ich kann dich sehen, weil du diesen Körper hast …«
» … und ich habe diesen Körper, weil du mich sehen kannst«, vollendete er meinen Satz.
In meinem Kopf schwirrte es. Ich schloss die Augen. »Geht es nicht einfacher?«, seufzte ich.
Er lachte leise. »Es gibt nur eines, das zählt«, sagte er dann sanft. »Bitte sieh mich an.«
Ich öffnete die Augen, sein goldener Blick fing mich ein und ich versank darin.
» Das ist echt«, flüsterte er mit samtener Stimme.
Mein Herz begann, wild gegen meine Brust zu hämmern.
Das ist nicht gut , flüsterte eine kleine Stimme in meinem Kopf. Das ist gar nicht gut …
Ach, halt den Mund, flüsterte ich zurück.
SEEMANNSGARN UND SPINNENNETZ
Ich erwachte allein.
Daran werde ich mich gewöhnen müssen , dachte ich enttäuscht, während ich ins Bad ging. Ich konnte ihn schließlich nicht ständig um mich haben … obwohl etwas in meinem Bauch bei dieser Vorstellung freudig zu flattern begann.
Der Schultag zog sich in die Länge. Chrissy schwieg grübelnd vor sich hin und wenn sie doch sprach, dann nur über den Gesundheitszustand von Julius Caesar. Mark gab mit ernstem Gesicht fachkundige Kommentare dazu.
»Was hat er gestern gemacht?«, flüsterte Anne. »Mathe gelernt, oder seinen Doktor in Veterinärmedizin?«
»Jedenfalls hat der Nachmittag sie näher zusammengebracht«, flüsterte ich zurück, während mein Blick nachdenklich auf die beiden gerichtet war. Chrissy vergrub gerade ihr Gesicht in ihren Händen, während Mark tröstend ihren Arm streichelte.
Ein zufriedenes Grinsen erschien auf Annes Gesicht. »Mission erfüllt!«
»Noch sind sie nicht zusammen«, flüsterte ich.
Anne schüttelte den Kopf. »Das ist eine Frage der Definition. Sieh sie dir an! Offiziell oder nicht, das ist doch eindeutig.«
Mein Blick ruhte eine Weile auf Chrissy und Mark. Etwas hatte sich
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