Unter goldenen Schwingen
verändert, auch wenn die beiden es selbst noch nicht gemerkt hatten. »Ich glaube, du hast Recht«, murmelte ich.
Während der letzten Stunde – Französisch mit Madame Dupont, einer ziemlich strengen Frau mit kurzen dunklen Locken und eckiger Brille, die weit vorne auf ihrer Nase saß – rutschte ich ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her. Ich konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen, und Nathaniel wiederzusehen. Als die Glocke schließlich läutete, stopfte ich hektisch meine Sachen in meine Tasche und musste mich zusammenreißen, um nicht vor den anderen aus der Schule zu rennen.
»Victoria?«
Ich war im Treppenhaus direkt an Wagner vorbeigelaufen.
»Wir warten draußen«, sagte Anne mit einem Blick auf Wagners Gesichtsausdruck und verschwand mit Chrissy und Mark hinaus auf den Schulhof.
»Melinda sagt, du warst gestern nicht bei ihr.« Wagner musterte mich fragend.
Oh, verdammt.
»Tut mir leid«, murmelte ich. »Ich hab’s vergessen.«
»Du hast es vergessen ?« Enttäuschung lag in seiner Stimme. »Du weißt, dass sie eine Ausnahme für dich gemacht hat, indem sie dir geholfen hat, oder?«
Mir stieg die Röte ins Gesicht.
»Abgesehen davon, dass sie mir einen Gefallen getan hat, weil du auf meine Empfehlung hin bei ihr warst …«
»Ich fahre heute zu ihr«, murmelte ich beschämt. »Äh … jetzt gleich.« Ich hasste den vorwurfsvollen Ausdruck, mit dem er mich ansah. Wie hatte ich Melinda Seemann nur vergessen können?
Ach, stimmte ja.
Nathaniel.
Als ich mit knallrotem Kopf zu den anderen aufschloss, sah Anne mich fragend an. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte vage. »Ich muss los.« Ich bog Richtung Parkplatz ab und spürte ihren Blick auf meinem Rücken.
»Was ist nur mit ihr und Wagner?«, hörte ich sie zu den anderen murmeln.
Da ich in der Nähe der Universität keinen freien Parkplatz fand, musste ich ein Stück zu Fuß gehen. Anscheinend hatte das Herbstsemester begonnen, denn der Haupteingang war voller Studenten. Ich schob mich an einer Gruppe Mittzwanziger vorbei, durchquerte die Aula und ging die Treppen hinauf. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betrat ich die Bibliothek.
»Ist Frau Seemann da?«
Herbert blickte gelangweilt von seinem Computer auf. Ich war mir nicht sicher, ob er mich wiedererkannte.
»In ihrem Büro«, sagte er gedehnt.
»Und wo … ?«
Er deutete auf den Gang links hinter dem Empfangsbereich und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Ich trottete den Gang entlang, bis ich eine Tür mit der Aufschrift ›Prof. Dr. Dr. Melinda Seemann‹ fand. Mit einem Kloß im Hals klopfte ich an und trat ein.
Melinda Seemanns Büro war überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hatte. Das Erste, was mir auffiel, war ein riesiges Aquarium, das an der hinteren Wand stand. Exotische Fische glitten schwerelos zwischen bunten Korallen hindurch. Es sah aus wie ein lebensechtes Gemälde.
Vor dem Aquarium stand Melinda Seemanns gläserner Schreibtisch mit nichts als einem Laptop darauf. In einer Ecke sah ich ein weißes Ledersofa und einen Tisch, auf dem ein großer Strauß Lilien stand. Doch das Ungewöhnlichste an dem Büro waren die Bilder an der Wand. Es war eine Sammlung unterschiedlichster Kunstwerke: Gemälde, Fotografien, Pergamente in gläsernen Rahmen und Holzschnitzereien. Sie alle stellten Engel und grässliche Wesen dar, und die meisten Kunstwerke schienen sehr alt zu sein.
Melinda Seemann blickte von ihrem Laptop auf. »Victoria. Ganz allein?«
Ich sah sie verwirrt an.
»Bei deinen letzten Besuchen hattest du immer einen Schwarm Inferni dabei.« Melinda lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fixierte mich mit ihren blauen Augen. »Du hast mehr von ihnen in meine Bibliothek geschleppt, als ich jemals zuvor in diesen Räumen gesehen habe.«
»Tut mir leid«, murmelte ich verlegen. »So nennt man sie also? Inferni?«
Melinda schwieg, ihr Blick weiterhin auf mich gerichtet. »Er scheint sie fürs Erste vertrieben zu haben«, sagte sie schließlich. »Wohin hat er dich an dem Abend gebracht?«
»In die Kirche hinter der Universität.«
»Gute Wahl. Je älter der geweihte Boden, desto stärker der Schutz – aber das weißt du sicher schon. Sie konnten euch nicht folgen, nehme ich an?«
»Sie haben sich im Park vor der Kirche versteckt.«
»Dunkle Ecken, in denen sie lauern können.« Melinda nickte. »Das klingt nach einem Ort, an dem sich Inferni wohlfühlen.«
»Warum können Sie sie sehen?«, fragte ich leise. »Und warum können Sie
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