Unter goldenen Schwingen
auch Nathaniel sehen?«
Melindas Gesichtsausdruck war undurchdringlich. »Die viel interessantere Frage ist doch: warum konntest du sie so lange Zeit nicht sehen?«
Ich starrte Melinda schweigend an. »Sie werden mir nichts darüber sagen, nicht wahr?«, murmelte ich schließlich.
»Nicht, bevor du die Prioritäten deiner Fragen überdenkst.« Melinda erhob sich und trat hinter dem Schreibtisch hervor. »Ich habe dich aus einem bestimmten Grund hergebeten. Ich habe eine Nachricht für Nathaniel.«
Ich blickte Melinda verwundert an und wartete.
»Sag ihm, ich denke, es war eine Mission.«
»Eine …?« Ich schüttelte irritiert den Kopf. »Was meinen Sie damit, ›eine Mission‹? Ich verstehe kein Wort.«
»Das ist auch nicht notwendig.« Ihre Stimme klang, als würde sie ein Kind zurechtweisen. »Er wird wissen, was zu tun ist.«
Genau wie bei Adalbert Kaster hatte ich auch bei Melinda Seemann das Gefühl, gegen eine Mauer zu rennen. Und ich war es leid. Meine Stimme klang schroffer als beabsichtigt. »Deshalb sollte ich herkommen? Ehrlich gesagt, habe ich diese Geheimnistuerei satt.«
»Das tut mir leid für dich. Denn du hast gerade einmal den ersten Stein umgedreht.« Melindas Blick ruhte kühl auf mir.
»Mehr lässt man mich auch nicht umdrehen«, murmelte ich trotzig. »Nathaniel hält sich zurück und von Ihnen erfahre ich anscheinend auch nichts.«
»Du weißt bereits mehr, als die meisten Menschen wissen.«
»Ich weiß gar nichts! Ich kann ihn sehen und ich kann diese Inferni sehen – warum werde ich weiterhin behandelt wie eine Ausgeschlossene?«
»Es tut mir leid, dass du es so empfindest. Du bist keine Ausgeschlossene. Es ist nur noch nicht der richtige …«
»Sagen Sie nicht, es wäre nicht der richtige Zeitpunkt!«
»Es gibt so viel, das du noch nicht verstehst …«
»Wie wäre es dann, wenn Sie es mir erklären würden?« Meine Stimme klang wütend.
Melinda schüttelte den Kopf. »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt«, wiederholte sie leise. »Irgendwann wirst du es verstehen.«
Ich verschränkte trotzig die Arme und starrte Melinda an.
»Warum haben Sie mir überhaupt geholfen?«, fragte ich. »Warum haben Sie mir all die Bücher herausgesucht?«
»Du bist hier hereinspaziert mit mehr Inferni im Nacken, als ich jemals gesehen hatte. Ich wollte dir eine Chance geben, zu überleben.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Melinda Seemann sah mich direkt an.
»Keiner von uns hat eine so sprunghafte Entwicklung von dir erwartet. Aber … es ist nun einmal geschehen. Als ich dich mit ihm und den Inferni gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob ich zu weit gegangen bin.« Sie senkte nachdenklich den Blick.
»Deshalb wollen Sie mir nichts sagen?«, murmelte ich. »Weil Sie denken, dass Sie mir schon zu viel verraten haben?«
Melinda schwieg.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte sie plötzlich. »Sag es ihm, oder sag es ihm nicht. Es liegt an dir.«
Ich starrte sie einen Moment an, dann wandte ich mich zum Gehen. An der Tür drehte ich mich noch einmal um.
»Sie sind nicht zu weit gegangen«, sagte ich leise. »Es waren die Inferni, die mich von Engeln träumen ließen. Das hat mich auf Nathaniels Spur gebracht.«
Sie nickte kaum merklich und wandte sich wieder ihrem Laptop zu.
Ich trottete in den Empfangsbereich zurück und fragte Herbert nach meiner Jacke. Er blies genervt die Backen auf, verschwand aber hinten in einem kleinen Büro und kehrte kurz darauf mit meiner Jacke zurück.
»Ich bezweifle, dass du wieder länger bleiben kannst«, sagte er gedehnt, während er mir die Jacke über den Tisch reichte. Er erinnerte sich also doch an mich. »Es ist Semesterbeginn und sehr viel los, wie du siehst.«
»Keine Sorge«, murmelte ich. »Meine Recherche hat sich erledigt.« Und außerdem glaube ich nicht, dass ich noch willkommen bin, fügte ich in Gedanken hinzu.
Ich fuhr nach Hause und parkte den Mini Cooper vor dem Haus. Als ich ausstieg, warf ich einen Blick auf die andere Straßenseite.
Und erstarrte.
Er hatte mich ebenfalls gesehen. Er legte seinen Kopf schief, seine Augen auf mich geheftet, ein widerliches Grinsen im Gesicht – und ich starrte wie versteinert auf das Spinnennetz-Tattoo an seinem Hals.
Als er sich in Bewegung setzte, drehte ich mich sofort um und ging mit schnellen Schritten den Gehsteig entlang. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er die Straße überquerte und mir folgte. Ich bog in die Parkanlage ein und rannte los.
»Nathaniel!«, keuchte ich, die
Weitere Kostenlose Bücher