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Unter goldenen Schwingen

Unter goldenen Schwingen

Titel: Unter goldenen Schwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Luca
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drängte Anne. »Die ganze Wahrheit.«
    Mark wand sich. Chrissy schubste ihn ein zweites Mal. »Schon gut, schon gut! Also … er … mag dich«, sagte er schließlich zu mir gewandt.
    »Oh«, sagte ich. »Okay.«
    »Das war’s, den Rest müsst ihr unter euch ausmachen.«
    »Es wird keinen Rest geben«, sagte Anne. »Victoria steht nämlich auf jemand anderen.«
    Mark hob überrascht die Augenbrauen. »Seit wann? Auf wen?«
    »Wir versuchen gerade, das herauszufinden«, sagte Anne. »Hast du eine Idee, wer in Frage kommen könnte?«
    »Hört endlich auf«, murmelte ich.
    Wir betraten das Klassenzimmer und gingen zu unseren Plätzen, während Anne im Ausschlussverfahren sämtliche Jungs aufzählte, die ihr einfielen. Ich bemühte mich, nicht vollkommen desinteressiert zu wirken, doch mein Blick wanderte immer wieder an die gegenüberliegende Seite des Raums, wo Nathaniel als stiller Beobachter entspannt gegen die Wand gelehnt stand. Als sich unsere Blicke trafen, schenkte er mir ein schiefes Grinsen – und sah dabei so umwerfend aus, dass ich Annes Geplapper vollkommen ausblendete.
    »Victoria?«, sagte sie plötzlich vorwurfsvoll und ich riss meinen Blick widerwillig von Nathaniel los. Anne runzelte missmutig die Stirn.
    »Äh, nein«, sagte ich und tat so, als hätte ich ihr zugehört. »Der ist es auch nicht, tut mir leid.«
    Sie holte Luft, vermutlich, um mir neue Namen aufzuzählen, doch dazu kam es nicht, denn in diesem Moment betrat Madame Dupont die Klasse.
    Meine Erleichterung währte nur kurz. Während die Dupont zu reden begann, lehnte ich mich automatisch im Sessel zurück, um mich vom Unterricht berieseln zu lassen – bis zwei Worte der Lehrerin mich wie ein Blitz trafen.
    Mündliche Vokabelprüfung.
    Oh nein.
    Das war doch nicht etwa heute?
    Jetzt erinnerte ich mich dunkel daran, dass die Prüfung irgendwann angekündigt worden war … irgendwann in meinem alten Leben, bevor Nathaniel meine Welt vollkommen verändert hatte. Ich merkte, wie mein Hals trocken wurde und meine Hände zu schwitzen begannen.
    Nachdem meine Vokabelwiederholung in der letzten Stunde so schlecht gewesen war, war ich gleich die Erste, die aufgerufen wurde. Ich erhob mich zögernd und blickte Madame Dupont zweifelnd an. Für einen Moment erwog ich, ihr die Wahrheit zu sagen. Entschuldigen Sie, Madame Dupont, ich bin nicht vorbereitet. Wissen Sie, mein Schutzengel muss mich ständig vor Inferni beschützen, das sind grässliche Wesen aus der Hölle, die versuchen, mich umzubringen, also bitte verzeihen Sie, dass ich die Vokabelprüfung vergessen habe.
    »Ich bin sicher, das versteht sie.« Nathaniel schlenderte grinsend durch die Klasse bis zu meinem Tisch.
    Wie schön, dass es dich erheitert , dachte ich, den Blick geradeaus auf die Tafel gerichtet. Aber wenn du nicht zufällig Französisch sprichst …
    Madame Dupont hatte mir soeben die erste Frage gestellt.
    Zu meiner völligen Verblüffung beantwortete Nathaniel sie ohne zu überlegen – in perfektem Französisch. »Victoire?«
    Unsicher wiederholte ich seine Antwort. Und die Nächste. Und die Übernächste. Es waren Vokabeln dabei, die ich noch nie im Leben gehört hatte. Als sie mir schließlich stirnrunzelnd gestattete, mich wieder zu setzen, starrte mich die ganze Klasse ungläubig an.
    Gibt es eigentlich irgendetwas, das du nicht kannst? dachte ich verblüfft.
    »Du sollst keinen Schaden durch mich haben.« Nathaniel lehnte sich an meine Tischkante.
    Ich hätte niemals ein ›Ausgezeichnet‹ geschafft.
    »Nimm es als kleinen Bonus«, lächelte er.
    Der Rest der Stunde zog wie in einem Traum an mir vorüber. Ich merkte erst, dass die Stunde vorbei war, als alle aufstanden, und der Lärmpegel im Klassenzimmer plötzlich anstieg.
    »Jetzt weiß ich es.« Anne grinste triumphierend.
    »Was denn?«, fragte ich verwundert.
    »Er ist französischer Austauschschüler«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.
     
    Wenn das so weitergeht, kriege ich das beste Zeugnis, das ich jemals hatte , dachte ich, während Nathaniel und ich die Treppen zu den naturwissenschaftlichen Labors hinuntergingen. Chrissy hatte Anne und Mark zu einem Abstecher zum Kiosk überredet, um ihre Kaffeesucht zu befriedigen.
    »Ich erwarte, namentlich erwähnt zu werden«, schmunzelte Nathaniel.
    Der Ausdruck auf seinem Gesicht war hinreißend. Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn ich ihn jemals verlieren sollte.
    Das kalte Grauen, das ich bei diesem Gedanken empfand, breitete sich in mir aus.

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