Unter goldenen Schwingen
Drohungen erzählte, dann würde Nathaniel alles hören. Doch wenn ich es ihr nicht erzählte, wie konnte sie mir dann wirkungsvoll helfen?
»Er setzt Victoria irgendwie unter Druck«, knurrte Nathaniel. »Ich glaube, er droht, mir etwas anzutun. Ich habe sie noch nicht zum Reden gebracht.«
Melinda Seemanns Gesichtsausdruck war unergründlich. »Ich verstehe«, sagte sie. »Das ist die typische Arbeitsweise von Dämonen. Sie setzen ihre Opfer unter starken psychischen Druck, sei es durch Inferni, durch andere Dämonen, die ihnen unterstellt sind, oder, wenn es sein muss, tun sie es eben selbst. Träume eignen sich dafür sehr gut, weil Engel dort keinen Zugang haben.«
»Warum eigentlich nicht?«, murmelte ich. »Was ist das überhaupt für eine blöde Regel?«
»Es ist das Erste Gesetz«, erwiderte Melinda. »Des Menschen freier Wille. Engel dürfen nur einschreiten, wenn ein Mensch sie zu Hilfe ruft – von ein paar seltenen Ausnahmen abgesehen. Dämonen und Inferni setzen sich über dieses Gesetz hinweg. Sie drängen sich in das Unbewusste der Menschen und versuchen, sie zu beeinflussen.«
»Bitte, Melinda«, unterbrach Nathaniel sie ungeduldig. »Kennst du diesen Dämon, oder nicht?«
Melinda warf ihm einen tadelnden Blick zu, setzte sich dann aber an ihren Laptop. Ihre Finger huschten über die Tasten, während sie ihre Dateien durchsuchte.
»Was habt ihr erwartet?«, schmunzelte sie, als sie meinen überraschten Blick sah. »Dass ich den Staub von einem uralten Buch kratze, das Siegel aufbreche und vorsichtig brüchiges Pergament durchblättere?«
Ich zuckte zaghaft mit den Schultern.
Melinda Seemann lachte. »Die Zeiten sind vorbei.« Sie überflog die Zeilen auf ihrem Bildschirm. »Ich habe hier etwas …«
Zu meiner Verwunderung wandte sie sich an Nathaniel.
»Bitte lass uns kurz allein.«
»Wie bitte?« Nathaniel war irritiert.
»Du hast mich schon verstanden. Keine Sorge, Victoria ist bei mir sicher. Bitte geh.«
Nathaniel zögerte und ich nickte, verwundert darüber, was Melinda wohl vorhatte. Es war deutlich, dass er nicht glücklich darüber war, mich zu verlassen. Doch schließlich verschwand der goldene Schimmer neben mir und Melinda und ich waren allein.
»Ich nehme an, du weißt, warum ich ihn fortgeschickt habe.« Sie blickte mich ernst an.
Ich biss mir auf die Lippen und schwieg. Wie viel wusste sie?
»Lazarus ist ein alter, sehr mächtiger Dämon«, sagte sie langsam. »Er hat viele Inferni und niedere Dämonen, über die er gebietet. Und wie es aussieht, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Schutzengel zu Fall zu bringen.« Sie beobachtete mich genau, während sie sprach.
Ich fühlte, wie schnell mein Herz schlug, und wie kalt meine Hände wurden.
»Ist es das, was er dir angedroht hat?«, fragte sie. »Nathaniel zu Fall zu bringen?«
Ich nickte stumm.
Sie wandte ihren Blick wieder dem Bildschirm zu und überflog einige Zeilen. »Offenbar sucht er sich die Schutzengel, auf die er es abgesehen hat, gezielt aus. Die Art und Weise, wie er sie zu Fall bringt, ist immer die Gleiche.« Sie schloss ihren Laptop mit einem leisen Klick . Ihr Blick ruhte unnachgiebig auf mir.
»Es ist der Fall, der auf eine Unverzeihliche Tat folgt«, sagte sie ruhig. »Ist das der Grund, warum du vor Nathaniel nicht über den Traum sprechen wolltest?«
Ich schwieg und starrte auf meine Hände, die in meinem Schoß ineinander verschlungen waren, so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.
»Ich verstehe«, sagte Melinda leise.
»Er weiß es nicht«, murmelte ich. »Es gibt einen Schild.«
»Das dachte ich mir«, sagte Melinda.
»Helfen Sie mir, ihn zu retten«, flüsterte ich flehend. »Ich würde alles tun …«
»Genau das nützt Lazarus aus. Er verwendet deine Angst gegen dich, nur um dich genau dorthin zu treiben, wo er dich haben will. Du darfst nicht zulassen, dass er gewinnt.«
»Was soll ich dagegen tun?« Die Verzweiflung in meiner Stimme war unüberhörbar. »Wie soll ich ihn aufhalten?«
Sie blickte mich nachdenklich an.
»Dämonen können am besten mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden. Du musst seine Schwächen herausfinden, und sie gegen ihn verwenden.«
»Seine Schwächen?«, murmelte ich kaum hörbar. »Sie haben Lazarus nicht gesehen, ich glaube nicht, dass er Schwächen hat.«
»Jeder hat eine Schwäche«, sagte Melinda. »Finde sie. Das ist deine einzige Chance, wenn du Nathaniel retten willst.« Sie senkte ihre Stimme. »Du bedeutest Nathaniel viel mehr, als
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