Unter Korsaren verschollen
drängende Fragen die verlorene Erinnerung zurückrufen zu wollen. Einmal, so denke ich mir, wird der Kranke von sich aus anfangen, verwundert um sich blicken, alles, Bäume, Häuser, den Gegenstand, den er gerade in der Hand halten sollte, die Menschen, erkennen – dann sich seines Namens, der Namen seiner Angehörigen, des Schiffes und eben aller Dinge erinnern, die ihm in seinem jetzigen Zustand ent-fallen sind.« So ähnlich hat es sich de Vermont gedacht.
Kein schwerer, aber ein schwieriger Fall – also nichts für ein Lazarett.
»Ich kenne unsere Krankenstation in La Calle«, berichtet er. »Ich habe erlebt, wie Männer unter der glühenden Sonne wahnsinnig wurden und tagelang tobten. Sollte ähnliches eintreten, während der Fremde in einem Hos-pital liegt, dann wäre alle aufgewendete Mühe umsonst.
An die Epidemiezeiten will ich mich nicht erinnern. Da lagen so viele Kranke in den Räumen, daß es dem Pfle-gepersonal unmöglich war, sich mit jedem einzelnen besonders zu beschäftigen.«
Einer solchen Gefahr möchte de Vermont den Fremden nicht aussetzen. Er hält den Schiffbrüchigen nicht für einen Seemann. Schon als man die Finger vom Türgriff löste, war ihm die feingliedrige Hand aufgefallen. Eine solche Hand kann nicht die schwere Arbeit mit Tau und Segel, mit Ruder und Ballast bewältigen. Das schmale Antlitz mit der hohen Stirn verrät einen Menschen, dessen Arbeitsfeld Buch und Feder ist. Der Fund in der Tasche bestätigte die Vermutung, begrenzte sie sogar glücklich, da man in dem Unglücklichen einen Künstler erkannt hat.
Das allein ist es natürlich nicht, was des Franzosen Mitgefühl anspricht. Ausschlaggebend ist die Tatsache, daß hier ein Verbrechen begangen wurde.
»Doktor«, wendet er sich zurück zu dem Arzt, »und wenn ich den Mann in mein Haus nähme?«
»Nichts einzuwenden, falls die von mir gestellten Bedingungen dort erfüllt werden können.«
»Keine Sorge.« Der Franzose kann diese Zusicherung ohne Bedenken geben. Er besitzt am Rande der Halbinsel, auf der La Calle liegt, ein schönes Landhaus mit einem großen, mit alten Bäumen bestandenen Garten.
Seit undenklichen Zeiten gehört das Grundstück der Familie de Vermont, die mit der Korallenfischerei ver-wachsen ist. Ein französischer Diener und mehrere Neger sind vorhanden, die den fremden Mann ebenso auf-opfernd pflegen werden, wie sie es mit dem jungen Herrn tun würden.
Obwohl Pierre-Charles de Vermont noch immer in den Listen der Korallenfischereigesellschaft als Angestellter geführt wird, gehört er doch nicht mehr ganz zu ihr. Das Unternehmen, dessen Wirken seit 1806 durch eine Verfügung des Deys stark eingeschränkt ist, sich die Neben-buhlerschaft Englands gefallen lassen muß, benutzt die besonderen Fähigkeiten des jungen Mannes nur dann und wann in schwierigen geschäftlichen Angelegenheiten.
Pierre-Charles kann sich dank des väterlichen Vermö-
gens ganz seinen romantischen Schwärmereien und Liebhabereien hingeben: dem Reisen, der Jagd, abenteu-erlichem Treiben – kurzum, ein ungebundenes Leben führen. Es hatte ihn nicht lange in dem kleinen La Calle mit seinem französischen Alltag gelitten. Man ist ja in Afrika. In Afrika! In diesem geheimnisvollen, dunklen und doch so lichtübergossenen Erdteil, von dem man bis jetzt erst wenig kennt, der rätselhafte Überraschungen, unvorstellbare Abenteuer in nie gekanntem Ausmaß bergen kann. Lockendes Land hinter den Ausläufern des Teil-Atlas, das einst das Numidien der Römer war. Viel hatte man als Student bei den römischen Geschichts-schreibern darüber gelesen. Blühende Niederlassungen besaß das Weltreich in Nordafrika; eine der Kornkammern Roms war es gewesen. Aber darüber sind zweitausend Jahre Weltgeschichte vergangen, fegten gewaltige Völkerstürme der Vandalen und der Reiter des Islams durch die Schluchten der Atlasketten und über die Ebenen Algeriens und hinterließen untilgbare Spuren. Der gelehrte Dr. Shaw hatte vor einigen Jahrzehnten das Land bereist und es beschrieben, so wie er es angetroffen hat. Wie, wenn man dem langweiligen Korallenfischerstädtchen den Rücken kehrte und sich selbst, heute, in der Regentschaft umsähe?
Abenteuerlust und wissenschaftliche Neugier waren es, die Pierre-Charles anfangs zu kleinen Ausflügen rund um La Calle und später zu ausgedehnten, wochenlangen Streifzügen auf diesem alten Kulturboden führten. Seine besondere Veranlagung für Sprachen und die jugendliche Begeisterung für das Ungewöhnliche,
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