Unter Korsaren verschollen
nicht die Hände auszustrecken, sich nicht um die Beute zu raufen. Man wird sie ihnen bringen.
Manche der unglücklichen Europäer sind unempfindlich für alles, was mit ihnen und um sie herum geschieht.
Sklaverei – das Leben ist aus. Andere kämpfen noch wie die Löwen um die Freiheit, werfen sich zu Boden, brüllen auf unter Fußtritten und Stockschlägen.
Da reißt sich einer aus den Armen der Wächter. Ein Sprung vorwärts. Gewaltiger Sprung. Wie ein Stier rennt er einen Janitscharen an. Ein Krach. Der Soldat kippt um wie ein Sack.
Die Menge heult auf. Mehrere der Umstehenden stürzen sich auf den Mann. Ein Hieb mit dem Säbel. Man hat einen Toten geköpft. Der Gefangene hatte sich durch den gewaltigen Anprall das Genick gebrochen. Befreit aus der Sklaverei. Die Menschen haben nicht bedacht, daß sie einem verhaßten Türken beispringen wollten.
Im Augenblick ist das Schauspiel zu Ende, ein Schauspiel, dessen unzählige furchtbare Einzelheiten erschüttern. Das Achtel des Staates muß erst sichergestellt werden. Dann geht das große Feilschen und Handeln los.
Dem Franzosen steht der Ekel in der Kehle. Und das duldet Europa! Her mit den Völkern, den Staatsmännern, daß sie solches sähen! Was wissen sie davon? Man belä-
chelt wahrheitsgetreue Berichte als Greuelmärchen, reiht sie unter »interessante Geschichten, gut gemacht, nette kurzweilige Unterhaltung« ein. Man braucht solche Geschichten, um dem abenteuerarmen Leben im gesitteten Europa einen Reiz zu verleihen. Im übrigen: Unmöglichkeiten. Wir leben im 19. Jahrhundert, nicht mehr in den Zeiten der Christenverfolgungen Roms. Inzwischen ist die Menschheit reifer geworden. Die Sklavenjagden in Afrika? Pah, man führt die armen Schwarzen zu ihrem Glück, zu einem geregelten, sorgenfreien Leben auf den Plantagen frommer Pflanzer. Ein Kulturwerk ist es. Das mit Algier stimmt nicht, wenigstens nicht alles.
»Nein, alles, alles. Reine Wahrheit ist, was ihr als zum Nervenkitzel bestimmt glaubt. Wahrheit!« De Vermont möchte es hinausschreien. »Wahrheit, Europa. Du steckst den Kopf in den Sand wie der Strauß, willst nicht sehen, was ist. Du wärest sonst aus deiner Ruhe gerissen, deine Völker könnten aufbegehren und feingesponnene Netze deiner Herren auf anderen Gebieten zerstören.«
Zornig kehrt sich der Franzose ab und steigt in die Stadt hinauf. Vor ihm schreitet gekrümmt, ab und zu den Kopf leicht nach links und nach rechts drehend, ein Jude. Jetzt macht die Gasse eine Kehre. De Vermont sieht den Mann im Profil.
»Simeon!« ruft er ihn halblaut an.
Der Angerufene mit schwarzem Kaftan und Käppchen bleibt stehen, blickt sich um, verneigt sich dann ehrer-bietig.
»Hast du gute Geschäfte gemacht im Hafen?« fragt Pierre-Charles.
»Nichts, Herr.«
»Noch nicht.«
»Ich bin ein armer Mann, Herr de Vermont. Für mich bleiben nur Brosamen von dem reichgedeckten Tisch.«
»So hast du das letztemal zuviel Wein, Likör, gesalzenes Schweinefleisch, gesalzene Fische und anderes, womit die Türken nichts anzufangen wissen, deren Ge-nuß der Koran verbietet, gekauft! Solltest du damit nicht gute Geschäfte gemacht haben? Doch mich kümmert’s nicht. – Ich wollte dich um einen Kredit angehen.«
»Es ist mir immer eine große Ehre, wenn die Herren Franzosen mein bescheidenes Haus für würdig ansehen.«
»Kannst du mir helfen?«
»Das Geld ist teuer. Ich müßte bei den Brüdern leihen.
Jeder muß leben. Aber, Ihr wißt, Herr, daß ich für Euch alles tue.«
»Ich weiß es. Und meine Worte waren nur Scherz. Ich wollte nur sehen, ob das alte Verhältnis zwischen uns noch besteht.«
»Es kommt darauf an, ob Ihr mir noch weiterhin Euer Vertrauen schenken wollt. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Womit kann ich Euch dienen, Herr?«
De Vermont mustert die Umgebung. Simeon sieht es.
»Kommt zur Nacht zu mir. Ich stehe zu Eurer Verfü-
gung.« Ohne Gruß, sich ganz den Anschein gebend, als habe er nur zufällig einige Schritte mit dem Fremden gleicherweise zurückgelegt, tritt der Jude in ein Kaffee-haus. Pierre-Charles setzt seinen Weg fort und kehrt bald danach zu seinem Segler zurück. Er muß den Männern mitteilen, wo er hingehen wird; denn Algier mit seinen Winkeln und Gassen ist gefährlich. Dann wird er Geld zu sich stecken. Simeon ist der Agent des Hauses de Vermont in Algier, ein sehr brauchbarer Mann, treu, ehrlich, verschwiegen, geschickt, aber – nicht billig.
Kurz bevor die Tore geschlossen werden, ist de Vermont wieder in der
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