Unter Trümmern
Das ist doch ein Haus. Aber dem kann man nicht danken.“ Sie lachte noch einmal, bevor sie die Zeitung wieder hob und weiterlas.
Dorle sah auf die alte Küchenuhr. Sie musste los. Sie hatte mit der Frau von Capitaine Jarrés ausgemacht, dass sie um zehn Uhr an diesem Morgen dort wäre und es blieb ihr keine Viertelstunde mehr. Franzi hatte ihren Blick nicht wahrgenommen. Sie las unbeirrt weiter.
… der anschließend vom Oberbürgermeister Dr. Kraus auch die Urkunde über die Errichtung einer Johannes-Gutenberg-Stiftung empfing. Dr. Kraus, erstmals wieder der schönen goldenen Amtskette von Mainz angetan, wies in seiner Ansprache noch einmal auf die Tatsache hin, dass man vor neun Monaten noch nicht den Gedanken an die Verwirklichung dieses großen Projekts hätte hegen dürfen und nun heute schon die Weihe begehe
.
Franzi machte eine Pause und sah hoch.
„Da hätten wir rein müssen. Was für ein Fest. Mensch, Dorle, es geht wieder vorwärts. Das wird noch was.“
Irgendetwas erschien Dorle seltsam in Franzis Stimme. Sie hatte, obwohl sie sich zu freuen schien und Optimismus ausstrahlen wollte, etwas Verzweifeltes.
„Ja, ja“, bestätigte Dorle, die in dem Moment aber nur daran dachte, dass sie um zehn im Haus des Franzosen sein musste. Sie wollte ihre Arbeit dort pünktlich beenden, um noch auf den Friedhof zu Rolf gehen zu können. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie schon am gestrigen Tag nicht dort gewesen war.
„Ich muss gleich gehen“, sagte sie endlich.
„Wie?“, entgegnete Franzi erschrocken, als habe sie mit einer solchen Antwort nicht gerechnet. „Ich dachte, wir machen heute was zusammen …“
„Ich muss zu Capitaine Jarrés“, erklärte Dorle. „Ich habe es versprochen.“
Geknickt nickte Franzi. Während Dorle sich endgültig fertig machte, blätterte Franzi noch in der Zeitung. Die beiden Frauen verließen gemeinsam das Haus, gingen noch ein Stück zusammen und trennten sich an einer Straßenecke.
Dorle sah ihrer Freundin noch kurz nach. Sie hatte sie so noch nicht erlebt. Aber sie war schon wieder in Gedanken zu sehr bei ihrer Arbeit, als dass sie weiter darüber nachdenken konnte.
23. Mai – 30. Juni 1946
XV
In der Nacht nach seinem Einsatz bei der Wiedergründung der Mainzer Universität konnte Koch lange nicht einschlafen. Zu viel beschäftigte ihn. Die Frau, die er nun zum dritten Mal gesehen und wieder nicht angesprochen hatte. Brunner, dessen Kontakte zu der französischen Militärverwaltung offensichtlich so gut waren, dass deren Vertreter sich offen mit ihm zeigten. Und vor allem Glodkowski, der eine besondere Stellung bei Brunner zu genießen schien.
Aber was hatte Koch in der Hand?
„Nichts!“
Er schrie das Wort ins Dunkel seines Schlafzimmers, in dem sich nur ein paar dünne Lichtstreifen zeigten, die durch die Löcher in seinem Vorhang bis in den Raum vordrangen. Der 170er Mercedes stand nicht mehr in Brunners Garage, Peter Gerber war mit großer Wahrscheinlichkeit in dem Keller umgebracht und später in den Hof geschleift worden. Aber wer das getan hatte und warum er umgebracht worden war, darauf hatte Koch nicht den geringsten Hinweis. Es gab Verbindungen zwischen Brunner und Gerber, aber welcher Art die waren, auch da hatte Koch nicht den geringsten Schimmer. Ob Peter Gerber oder sein Vater oder beide in die schmutzigen Geschäfte Brunners verwickelt waren – Koch nahm es an, aber beweisen konnte er das nicht. Dann war da noch der Mordversuch an Siggi. Vieles sprach dafür, dass Glodkowski dahinter steckte, einen Beweis dafür hatte er ebenso wenig. Immerhin hatten sie die Flasche mit dem Obstbrand, mit dem Siggi sehr wahrscheinlich abgefüllt worden war, gefunden. Genau eine solche Flasche hatte er bei dem alten Gerber gesehen. Wieder eine Verbindung. Auf der Flasche waren Fingerabdrücke. Jetzt galt es herauszufinden, wem die gehörten. Er vermutete, oder sollte er besser sagen, hoffte, dass sie von Glodkowski oder seinem Kumpan, diesem Hafner, stammten. Um das herauszufinden, musste er sich eine Referenz besorgen. Und er hatte auch eine Idee, wie er das bewerkstelligen konnte. Morgen Abend!
Dienstagmorgen deutete nichts mehr auf den heftigen Regen des Vortages hin. Der Wind hatte in der Nacht alle Wolken vertrieben, der Himmel war blau und Koch genoss es, seinen Muckefuck am offenen Fenster zu trinken und die Leute zu beobachten, die sich schon auf den Weg in die Dörfer im Umland machten, um ihre verbliebenen Wertsachen gegen Lebensmittel
Weitere Kostenlose Bücher