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Unter Verdacht

Unter Verdacht

Titel: Unter Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Arden
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Mann, um Haupteslänge überragt. Karen erkannte auf Anhieb den Mann vom Polaroid. Er und Sylvia plauderten ungezwungen miteinander.
    Karen wandte ihren Blick sofort wieder ab. Sylvias Anblick, fein, grazil, zerbrechlich, neben diesem Mann, mit dem sie sich unübersehbar wohl fühlte, versetzte Karen einen Stich ins Herz.
    »Lass uns rübergehen«, schlug Ellen vor.
    »Lieber nicht. Wahrscheinlich stören wir bloß«, meinte Karen widerstrebend.
    »Warum sollten wir stören? Na, ich gehe jedenfalls.« Damit setzte Ellen sich in Bewegung. Karen folgte ihr notgedrungen.
    »Guten Abend, Sylvia«, grüßte Ellen.
    Sylvia erwiderte die Begrüßung erfreut. »Hallo. Sie sind auch hier?«
    »Wie man sieht.«
    Ellen beäugte Sylvias Begleiter.
    »Torsten Arndt«, stellte der sich vor.
    »Ellen Candela, Karen Candela«, machte Sylvia bekannt.
    »Freut mich.« Torsten lächelte. »Wie gefällt Ihnen das Stück?«
    Ellen war begeistert. »Ich liebe dieses Musical. Ich finde es ungeheuer romantisch. Die anrührende Wandlung der Londoner Göre Eliza Doolittle zur selbstbewussten Frau. Daneben der unwissentlich, aber merklich verliebte Professor Higgins, seines Zeichens bekennender Junggeselle, nun im Zwiespalt zwischen seinen Anschauungen und seinen Gefühlen.«
    »Eigentlich kaum zu verstehen, was Eliza zu diesem Stoffel hinzieht«, meinte Sylvia.
    »Tja, wo die Liebe hinfällt, da setzt der Verstand aus«, kommentierte Torsten lächelnd.
    »Hört, hört! Noch ein Romantiker«, stichelte Ellen.
    »Warum nicht?« meinte Torsten. Karen entging nicht sein Blick auf Sylvia. Er liebt sie . Und Sylvia? Sie ließ nichts erkennen. Aber was hieß das schon?
    Jetzt wandte sich Torsten an Karen. »Und wie ist Ihre Meinung?«
    »Zum Musical oder zur Romantik?«
    »Sowohl als auch.«
    »Das Musical«, begann Karen kurz angebunden. »Gelungene Situationskomik und gleichermaßen ernsthafte Auseinandersetzung. Erweitert man die Betrachtungsweise, hat dieser Klassiker über Jahre hinweg nichts an Substanz verloren. Mit Problemen wie Standesunterschieden und Anderssein hat nicht nur die Fair Lady zu kämpfen.« Karen beobachtete Sylvia, während sie sprach. Die machte ein nachdenkliches Gesicht. »Und die Romantik«, setzte Karen trocken hinzu, »wird im allgemeinen überbewertet. Die Realität lässt selten so etwas zu.«
    »Das hört sich ziemlich pessimistisch an«, meinte Torsten.
    »Wollen Sie dem ernsthaft widersprechen?«
    »Und wenn?«
    »Dann sind Sie nicht ehrlich.«
    Torsten zog verwundert die Augenbrauen hoch.
    Im Foyer wurde es leerer. Man strebte zurück in den Saal. Ellen gab das Signal zum Aufbruch. »Es wird Zeit, wieder reinzugehen. Vielleicht sehen wir uns ja nachher noch.«
    »Ja, das wäre schön«, erwiderte Sylvia.
    Ellen und Karen gingen zurück zu ihren Plätzen. Ellen meinte spitz: »Du musstest nun wieder stänkern.«
    »Wieso? Was meinst du?«
    »Nun, tu doch nicht so. Du warst ziemlich barsch zu ihm.«
    »Ich war doch nicht barsch.«
    »Wie nennst du es dann, wenn ein harmloses Gespräch quasi mit einem Ultimatum endet?«
    Auf der Bühne erschien Alfred P. Doolittle und enthob Karen von der Antwort. Elizas Vater, gewöhnlicher Müllkutscher, Trinker und zu alledem moralisierender Heiratskandidat, genoss den letzten unabhängigen Abend seines Lebens. Er tat es mit fatalistischem Charme inmitten des Londoner Vorstadtpomps und heizte mitsamt dem großen Ballett und Chor dem Publikum ein. Anschließend zofften sich der Held und die Heldin – in bewährter Manier. Die Streithähne waren nicht weniger zivilisiert, nur weil sie sich einer zivilisierteren Sprache bedienten. Der Kampf endete damit, dass die ehemals kleine Göre als Dame ihren Lehrer belehrt und seine Methoden an ihm ausprobiert. Er bekommt die Praline vorgehalten, doch sie isst sie.
    Das Publikum bedankte sich bei den Darstellern mit anhaltendem Applaus und forderte sie so immer wieder auf die Bühne. Nach zehn Minuten klang der Beifallssturm langsam ab.
    Ellen und Karen trafen Sylvia und Torsten an der Garderobe wieder. Er legte ihr gerade die Jacke über die Schultern. Sylvia schaute Karen an. Karens Blick verdüsterte sich. Vor ihrem inneren Auge spulte sich eine Bildfolge ab: Sylvia steigt in den Wagen ihres Begleiters, er fährt sie nach Hause, die unvermeidliche Frage nach einer Tasse Kaffee zum Abschluss des Abends, eine intime Situation . . . Karen verspürte plötzlich nur noch den Wunsch, sich irgendwo mit einem dreifachen Kognak zu

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