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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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sein, aber dies war immer noch besser, als ganz allein heimzukehren. Denn das Haus machte Matthieu jetzt Angst, als hätte es sich gleichzeitig mit dem Verlust der Sommerwärme aller Spuren vertrauter Menschlichkeit entledigt. Die Porträts seiner Urgroßeltern, die er stets als oberste Götter, die über seine Jugend wachten, angesehen hatte, nahmen etwas Bedrohliches an, und es schien ihm zuweilen, als wären es keine Porträts, die man da an die Wände gehängt hatte, sondern Leichen, deren Zerfall die Kälte verhinderte und die nichts Liebendes oder Beschützendes ausstrahlten. In der Nacht hörte er häufig ein Ächzen, von dem er hoffte, es sei eingebildet, wie Seufzer, so gedehnt und traurig war es, und er hörte die sehr reellen Geräusche, die sein Großvater machte, während er in der Dunkelheit umherirrte, von Zimmer zu Zimmer zog und gegen Möbel stieß, und Matthieu stopfte sich die Ohren zu und vergrub seinen Kopf unter seinem Kissen. Wenn er aufstand, war es noch schlimmer. Er machte Licht und fand seinen Großvater im Wohnzimmer, die Stirn gegen das eiskalte Fensterglas gepresst, in seinen Händen eine Photographie, die er nicht einmal anschaute, oder aber in der Küche, aufrecht, die Augen starr gerichtet auf etwas Unsichtbares, das ihn anscheinend bannte und mit Grauen erfüllte, und wenn Matthieu ihn fragte: »Alles in Ordnung? Willst du dich nicht wieder schlafen legen?«, antwortete er nicht, sondern schaute nur immerzu vor sich hin, das Gewicht eines tausendjährigen Greisenalters auf seinen zerbrechlichen Schultern, mit zitterndem Kiefer, in Beschlag genommen von einer Vision, die ihn vor jeglicher Verletzung bewahrte in der Schutzhaft ihrer eifersüchtigen und furchteinflößenden Umklammerung. Matthieu legte sich wieder hin, ohne schlafen zu können, und manches Mal war er versucht, sein Auto zu nehmen, aber wo wäre er hingefahren, um vier Uhr nachts, mitten im Winter? Es blieb ihm nur zu warten, bis das Licht der Morgendämmerung durch die Läden dringen sollte, um die Verwünschung zunichtezumachen. Das Haus wurde dann wieder freundlicher und langsam vertraut. Matthieu schlief ein. Tag für Tag zögerte er, so gut er konnte, den Augenblick hinaus, da es die Bar zu verlassen galt, und er versuchte, zumindest ausreichend betrunken heimzukehren, um leichter in den Schlaf finden zu können. Eines Abends wagte er die Mädchen zu fragen: »Kann ich heute Nacht bei euch schlafen? Rückt ihr für mich zusammen?«, und fügte dümmlich hinzu: »Ich habe keine Lust, allein zu schlafen«, und die Mädchen begannen zu lachen, selbst Izaskun, die inzwischen ausreichend Fortschritte im Französischen gemacht hatte, um eine Albernheit erkennen zu können, wenn sie eine hörte, und sie amüsierten sich über Matthieu und sagten, nein wirklich, er sei von umwerfender Originalität, und richtiggehend rührend auch, und dann auch glaubhaft, und Matthieu protestierte aufrichtig und lachte selbst dabei, bis sie zu ihm sagten: »Aber na klar! Na klar kannst du! Wir rücken für dich zusammen.«
    Er folgte ihnen in die Wohnung. An den Wänden lagen sorgfältig aufgereihte Säcke und Wäschestapel. Ein Räucherstäbchen brannte. Annie hatte ihre Kammer, Rym und Sarah schliefen in der anderen und Matthieu legte sich auf die Matratze, die sich Agnès und Izaskun im Wohnzimmer teilten und die sie hinter einem japanischen Wandschirm versteckt hielten. Sie folgten ihm, hänselten ihn noch ein wenig und schmiegten sich an ihn. Izaskun murmelte etwas auf Spanisch. Er küsste ihnen die Stirn, einer nach der anderen, wie zwei Schwestern, und sie schliefen ein. Nicht eine Drohung mehr bedrückte Matthieus Schlaf, nicht ein morbider Schatten. Als er erwachte, ruhte sein Kopf an Izaskuns Brüsten und eine seiner Hände lag auf Agnès’ Hüfte. Er trank Kaffee und ging nach Hause duschen. Aber er schlief dort nicht mehr. Am nächsten Tag legte er sich zu Rym und Sarah und wechselte in den Folgenächten zwischen den Matratzen im Wohnzimmer und der Kammer und schlief stets den gleichen unschuldigen und friedlichen Schlaf, als wäre das heilige Schwert des Ritters aufs Laken gelegt worden zwischen seinen Körper und die Körperwärme der jungen Mädchen und würde ihnen etwas mitteilen von seiner ewigen Reinheit. Diese himmlische Harmonie war nur am Wochenende gestört, wenn Pierre-Emmanuel Colonna sich zu Annie gesellte und ihr satanisches Treiben ertragen werden musste. Ihre Ausdauer war unvorstellbar. Sie machten

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