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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gekleidet. Herr Matsumoto 31 war auch anwesend, und ich konnte ihn predigen hören.
    Allerdings verstand ich, ehrlich gesagt, nicht genau, wovon er sprach ( lacht ). Ich war müde von der Reise und nickte dauernd ein. Aber die Predigt hatte einen starken Sog, und ich hatte den Eindruck, dass es um etwas sehr Tiefsinniges ging. Mittlerweile glaube ich, dass ich damals eher von künstlerischer Intuition oder mystischer Ergriffenheit bestimmt war als von logischem Denken.
    Nach der Predigt wurden die Leute, die noch reden wollten, zum Bleiben eingeladen, und ich hatte Gelegenheit, mit Hideo Murai zu sprechen, der Erleuchtung erlangt haben sollte. Herr Murai hatte überhaupt keine heilige Ausstrahlung oder so was, er wirkte wie ein gewöhnlicher Aum-Anhänger. Nachdem wir über den Körper und verschiedenes andere gesprochen hatten, sagte er plötzlich: »Wollen Sie nicht bei uns Mitglied werden?« Heute weiß ich, dass das eine von Aums Standardtaktiken ist. Meist kommen zu solchen Veranstaltungen Leute, denen etwas fehlt oder die etwas suchen. Aber die Atmosphäre im Dojo war nicht übel, und als er mich so plötzlich aufforderte, Mitglied zu werden, war ich überrumpelt und füllte ein Anmeldeformular aus. Ich hätte 30.000 Yen [300 Euro] zahlen müssen, aber weil ich das Geld nicht dabei hatte, zahlte ich erst, als ich wieder in Tokyo war. Damals war ich im ersten Semester.
    Zuerst ging ich eine Weile ins Setagaya-Dojo, aber meine Hauptbeschäftigung bestand darin, Aum-Flugblätter zu verteilen. Statt asketische Übungen zu machen, sollten wir erst mal »Verdienste erwerben«, hieß es. Im Dojo gab es eine Menge Stadtpläne, auf denen Tokyo in Sektionen eingeteilt war. Abends wurde man dann bestimmten Gegenden zugeteilt: »Du machst heute Viertel Soundso.« Das bedeutete, wir warfen die Flugblätter in die Briefkästen. Ich war ziemlich eifrig dabei, ich fand das irgendwie befriedigend, und außerdem tat mir die körperliche Bewegung gut. Damals glaubte ich, wenn ich genügend Verdienste erworben hätte, würde der Guru mir etwas von seiner Energie übertragen.
    Murakami: Also machte Ihnen das Verteilen von Flugblättern mehr Spaß als Ihr Studium?
    Ich wollte meinem Leben eine andere Richtung geben. Architekturdesign studieren konnte ich, soviel ich wollte, aber mehr als vielleicht einen guten Job zu finden war nicht drin. Da war es doch attraktiver, meine spirituellen Kräfte zu mobilisieren, um am Ende Erleuchtung zu erlangen.
    Murakami: Zu diesem Zeitpunkt hatten Sie also schon das Interesse am normalen Leben verloren und sich Ihrer spirituellen Entwicklung zugewandt?
    Genau.
    Murakami: Menschen, die sich mit Sinnfragen auseinander setzen, verhalten sich gewöhnlich nach einem bestimmten Muster. Als Jugendliche lesen sie viel, beschäftigen sich mit allen möglichen Philosophien, suchen Bestätigung und wählen sich dann aus allem eines dieser Gedankengebäude aus. Aber bei Ihnen war das nicht so. Anscheinend haben Sie sich von einer Stimmung treiben lassen und sind bei Aum gelandet. Oder?
    Ich war ja damals noch ziemlich jung und hatte gar keine Gelegenheit, mich erst mit verschiedenen Ideen zu beschäftigen, denn ich bin ja gleich auf Aum gestoßen. Jedenfalls wurde es allmählich immer schwieriger, die Uni und Aum miteinander zu vereinbaren. Also konzentrierte ich mich mehr auf Aum, ging kaum noch zum Unterricht und setzte das Studienjahr schließlich in den Sand. Genau zu diesem entscheidenden Zeitpunkt sagte Herr Matsumoto zu mir: »Du solltest die Gelübde ablegen.« Also tat ich es.
    Das war während einer der so genannten »Geheim-Yoga«-Sitzungen. Herr Matsumoto saß mit ein paar wichtigen Jüngern in einer Reihe vorn, die anderen saßen gegenüber, bekamen persönlichen Rat oder legten ein Bekenntnis ab oder sonst etwas. Damals konnten die Anhänger noch direkt mit ihm sprechen, weil es noch nicht so viele gab. Ich vermute mal, Herrn Matsumoto ging es eher darum, die Anzahl der Samana – also der Mönche und Nonnen – zu vergrößern, als mir ernsthaft Rat zu erteilen. Seine Berater bestätigten ihn und sagten: »Du wirst in der realen Welt nicht zurechtkommen, weil die Entsagung dein Karma ist.« Wenig später legte ich die Gelübde ab. Damals hatte ich völliges Vertrauen zu Aum und keine Zweifel. Wenn der Guru sagt: »Entsage der Welt«, gehorcht der Jünger selbstverständlich. Ich glaubte, Herr Matsumoto sei ein Mensch, der auf alle meine Fragen eine Antwort hatte. Wenn ich ihn predigen hörte,

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