Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
der Taxifahrer.
»Ja, der bin ich. Und jetzt schnell zurück aufs Revier.«
Stengele und Hölleisen kamen atemlos am Mähdrescher an. Das Bild, das sich ihnen bot, war gleichzeitig erschreckend und bizarr. Kommissarin Nicole Schwattkes und Polizeiobermeister Johann Ostlers Gesichter blickten schmerzverzerrt, beide waren mit ihren eigenen Handschellen an das Gerät gefesselt. Beide stöhnten und wimmerten.
»Hölleisen, befreien Sie die beiden. Ostler, ich sehe, Sie haben einen Wadenkrampf. Treten Sie fest mit den Beinen auf den Boden. Gehen Sie herum, laufen Sie herum. Das ist das Einzige, was hilft. Ihre Waffen?«
»Hat er uns abgenommen.«
»Das dachte ich mir. Ich glaube zwar nicht, dass der Tunesier noch in der Nähe ist, aber ich sehe trotzdem nach.«
Und schon war Stengele im hohen Gras verschwunden. Ostler humpelte brüllend herum. Hölleisen zerriss sein T-Shirt und verband damit Nicoles blutende Handgelenke.
Stengele kam zurück.
»Weit und breit keine Spur vom Tunesier. Ich bin mir sicher, er ist Richtung Wald gelaufen. Es wird allerdings bald dunkel. Es hat vermutlich keinen Sinn mehr, aber wir sollten nichts unversucht lassen. Ostler, wenn Sie sich fit genug fühlen, dann bleiben Sie hier und halten für alle Fälle die Stellung. Hier ist meine Waffe. Ich werde sie im Wald nicht brauchen.«
»Aber Sie haben doch vorher –«, sagte Hölleisen überrascht.
»Ja, ich trage zwei Waffen. Aber jetzt nicht mehr. Unwichtig. Nicole, fühlen Sie sich fähig, mitzukommen?«
Stengele wartete die Antwort nicht ab. Die Truppe zog los. Sie waren wild entschlossen, den Tunesier zu stellen.
»Den erwischen wir!«, murmelte Nicole. »Dem will ich Aug in Aug gegenübertreten. Der kann was erleben, das sage ich Ihnen.«
»Er hat Spuren zurückgelassen«, sagte Stengele, als sie eine kleine Pause machten. »Sie sind gut zu erkennen. Er ist entweder ein Anfänger, was ich nicht glaube. Oder es ist ihm gleichgültig. Er hält uns wahrscheinlich für Provinzdeppen, die eh keine Spuren lesen können. Da ist er aber an die Falschen geraten! Hier, sehen Sie, ein frisch abgeknickter Zweig. Er ist in Brusthöhe beschädigt, ein Tier kann es also nicht gewesen sein. Hm! Mir scheint, dass die Spur absichtlich gelegt wurde. Um uns in die Irre zu führen.«
Zwei Augen starrten aus einem Busch. Zwei Augen, die nicht einmal Stengele bemerkte. Es waren trübe und dösige Augen, und die Gestalt hatte einen dicken Zimmermannsbleistift hinter dem Ohr.
31
Richard Wagner, Siegfried jagt den Drachen im Unterholz
Das mit dem dicken Zimmermannsbleistift hinter dem Ohr hatte sich der dösäugige Wolzmüller Michl vor dreißig Jahren angewöhnt – jeder braucht seine Marotte, auch der allerfaulste Faulpelz. Damals vor dreißig Jahren hatte der alte Wolzmüller, der Vater des Faulpelzes, immer mehr Gefallen an dem Geld gefunden, das da hereinfloss. Der Michl malte einmal in der Woche ein Bild, und der ehemalige Bibel-Illustrator Frank Möbius verkaufte einmal pro Woche eines. Es war gutes schwarzes Geld, das so hereinkam, das Geschäft mit den posthum gefundenen Bildern von Kai Fuselitz lief wie geschmiert. Von Landwirtschaft im althergebrachten Sinn war längst keine Rede mehr, Südtiroler Leiharbeiter mähten, molken und kästen. Möbius schlug vor, ein partygeeignetes Zirbelstüberl zu bauen, so richtig landhausmäßig, mit allen Schikanen, mit dem authentischen bayrischen Lebensgefühl, mit Sauna und viel Blick aufs Gebürg. Als es fertig war, sollte eine Housewarming Party stattfinden. Auch der junge Michl wurde eingeladen, er lehnte ab, ihm war so etwas zuwider, ihm waren das zu viele Leute. So schaute er von draußen durchs Fenster und malte ein paar der Gäste. Auch der alte Wolzmüller war eingeladen. Er war wichtig für die authentische Atmosphäre.
Als die Gäste in den Raum strömten, gab es ein vielstimmiges Ah! und Oh!, denn auf dem runden großen Glastisch war der Kurort im Maßstab 1 : 5000 zu sehen, und alle traten neugierig näher, um das sorgsam gearbeitete Modell zu bewundern, ein fein ziseliertes Relief der Marktgemeinde.
»Das ist ja –«, sagte der damalige Bürgermeister und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Der Doppelort glich einem riesigen Schmetterling, der mit ausgebreiteten Flügeln und mit dem Kopf nach unten in einer Suppenschüssel schwamm. Am Tellerrand, an den hügeligen Rändern des Talkessels, stachen sofort die sportlichen Attraktionen des Winterkurorts ins Auge, das waren
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