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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ganz«, begrüßte ich sie. Ich hatte nicht die Absicht, mich zu entschuldigen, schließlich hatte sie einige wirklich biestige Dinge zu mir gesagt, aber ganz übergehen wollte ich unseren Zusammenstoß trotzdem nicht.
    Der unfreundliche, misstrauische Blick, der mich anstelle einer Antwort traf, überraschte mich dennoch. Auch Lenis Mutter blitzten die Augen.
    »Wenn du’s nicht wärest, Alice Sievers, würde ich von deiner Mem Schadensersatz verlangen!«
    »Nur los! Dazu können meine Mädel dann auch etwas sagen!«, rief Frau Larsen aus ihrem Garten hinüber. Winters duckten sich und wandten die Köpfe hin und her, als wären sie in einen Schusswechsel geraten.
    »Hör mal zu, Grete«, sagte Ooti gedämpft. »Wir wollen hier Frieden auf der Parzelle, also geben die Mädchen sich jetzt die Hand und es ist gut!«
    Leni die Hand zu geben fühlte sich an wie Fangen spielen; kaum wollte ich sie packen, war sie schon wieder weg. Seitdem arbeiteten wir schweigend nebeneinanderher. Dass Larsens sich für mich zu interessieren begonnen hatten, verlieh Lenis Zuneigung auch keinerlei neue Impulse. Wahrscheinlich bestätigte es in ihren Augen nur, was sie mir vorgeworfen hatte: Ich machte mich wichtig.
    Als ob ich Sigrid freiwillig mein Bein in die Hand gedrückt hätte! Sie hatte mir einfach keine Ruhe gelassen, bis ich es endlich abschnallte. Unbehaglich drückte ich mich an die Mauer und versuchte die gereckten Hälse der Winters zu ignorieren, während Sigrid die Prothese ausgiebig untersuchte, kühn die Hand in den Schaft steckte und das Kunstbein an ihr eigenes, nach hinten abgewinkeltes Knie hielt.
    »Ein tolles Ding«, sagte sie ein ums andere Mal, und: »Sieh dir das an!«, als ob ich es nicht Tag für Tag vor Augen hätte.
    »Wenn dein Bein amputiert wird«, überlegte Sigrid, »sind die Nerven doch noch da, oder?«, worauf ich erklärte, dass das Militärkrankenhaus auf Helgoland zwar auf dem neuesten Stand gewesen wäre, Dr . Kropatscheck das Durcheinander in den Nervenbahnen aber tatsächlich nicht habe verhindern können.
    »Im Gehirn kommt nicht an, dass das Bein weg ist, deshalb tun die Teile, die nicht mehr da sind, weh. Die Schmerzen sind so schlimm, dass du nur noch rumliegst und heulst. Ich musste über ein Jahr Tabletten nehmen, von denen man dusselig im Kopf wurde.«
    Sigrid sah mich respektvoll an und nickte.
    »Wenn ich nicht mehr wachse, werde ich nachoperiert und bekomme eine bessere Prothese, die gerade entwickelt wird. Dann brauche ich die Krücken überhaupt nicht mehr!«
    »Wie sieht die aus?«, fragte Sigrid sofort und ich zeichnete mit dem Finger in den Sand, was mir der Arzt in der Versorgungsstelle beschrieben hatte.
    »So etwas müsste man erfinden!«, sagte sie. »Keine Schiffe, keine Flugzeuge. Alles, was man gegen Menschen einsetzen kann, sollte ab sofort verboten werden!«
    Als ich an dem Abend meine Prothese abschnallte, legte ich sie nicht wie sonst schnell und achtlos zur Seite, sondern sah zum ersten Mal näher hin. Sie war fein und sauber geschliffen, sie hatte genau die richtigen Proportionen für ein Mädchenbein, jemand hatte sich ganz genau überlegt, wie sie aussehen musste. Sprach man vielleicht deshalb von einem Kunstbei n – und weniger, weil es nicht echt war?
    Am nächsten Tag unternahm ich einen neuerlichen Versuch mit Leni. »Es kann schon sein, dass ich wegen meines Beins mehr beachtet werde, aber würdest du deshalb mit mir tauschen wollen?«, fragte ich.
    Sie antwortete nicht, auf die Antwort stieß ich selbst, während wir schweigend in der Erde gruben. Ich wollte nicht tauschen! Auf keinen Fall wollte ich Leni sein, mit ihrer Weinerlichkeit, ihrer Bravheit, ihrem Hang zum Petze n – selbst wenn sie zwei komplette Beine hatte und zeichnen konnte.
    Dennoch konnte ich nicht sagen, dass die Kündigung unserer Freundschaft mir gleichgültig war. Die Tommys brachten Sprengstoff auf unsere Insel, und wir Helgoländer Mädchen vertrugen uns nicht mehr! Es schien mir wie ein düsteres Zeichen in die Zukunft, und dass ich in Hamburger Erde grub, machte es nicht besser. Sosehr ich mich über die Pflanzen freute, die unter unseren Händen gediehen: Sie hätten in Ootis Garten auf der Insel wachsen sollen und nicht hier.
    »Den Felsen kann man nicht sprengen«, behauptete Henry.
    Dabei hatte James, unsere Quelle für alle Heimatnachrichten, inzwischen bestätigt, dass die Engländer Helgoland zerstören wollten. Es sei für alle Zeiten unbewohnbar, hieß es, ein

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