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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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wenn er einen falschen Zeitpunkt für seine entsprechende öffentliche Einlassung gewählt hat. Hinzu kommt die Notwendigkeit, ein Verfahren für eine geordnete staatliche (!) Insolvenz von Mitgliedsstaaten zu verankern. Und schließlich müssten die Mittel der EU (mit den deutschen Nettozahlungen!) gezielt der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Mitgliedsstaaten dienen, die zunehmend ins Hintertreffen geraten.
    All das erfordert erheblichen politischen Einsatz der handelnden Personen und einen großen Erklärungsaufwand der Bundesregierung gegenüber den Bürgern. Im Mittelpunkt der Erklärungen müsste die Bedeutung des europäischen Projekts gerade für uns Deutsche stehen.
     

IV - Sozialstaat im Schraubstock
Gesellschaftliche Fliehkräfte
    Der Sozialstaat heutigen Zuschnitts gerät auf Dauer sowohl in eine Leistungskrise als auch in eine Legitimationskrise. Er wird das Leistungsniveau wegen immanenter Kosteneskalation, wachsender Disproportionen zwischen Einzahlern und Empfängern sowie des Zustroms von Anspruchsberechtigten nicht halten können. Er frisst sich selbst auf. Oder er knöpft den Bürgern zusätzliche Finanzierungsbeiträge ab. Und das nicht zu knapp, was keineswegs zwingend mit zusätzlichen Leistungen korrespondiert. Das wiederum würde seine Legitimationskrise verschärfen, in die einige politische Kräfte sträflich polarisierend und in verantwortungsloser Weise Benzin gießen, wie die politischen Ausfälle und Inszenierungen von Empörung im Zuge des Bundesverfassungsgerichtsurteils zu Hartz IV im Februar und März 2010 gezeigt haben.
    Eine solche Legitimationskrise droht einerseits von der Seite der Transferempfänger, die das System für ungerecht und unzureichend halten. Die Stillhalteprämien werden ihnen bei wachsenden Lebenshaltungskosten immer zu niedrig sein. Mehr noch, sie empfinden diese als entwürdigend, solange ihnen die Perspektive einer selbstbestimmten Existenz verschlossen bleibt. Die Legitimationskrise droht nicht weniger von der anderen Seite der mehrfach so bezeichneten Lastesel im mittleren Einkommensbereich, die sehr aufmerksam verfolgen, wie sich ihre Solidarbeiträge kaum nachhaltig und ergiebig auswirken.
    Wer diesen Sozialstaat als eine der größten politischen und kulturellen Errungenschaften der vergangenen 140 Jahre erhalten will, der muss ihm eine neue konzeptionelle, finanzielle und organisatorische Basis geben - oder der Sozialstaat selbst »verwahrlost« (Heribert Prantl). Man darf ihn nicht verbissenen Gefechten von Maximalisten und Minimalisten aussetzen. Man muss ihn auch nicht neu erfinden. Aber zaghafte Versuche, an ein paar Justierschrauben zu drehen, werden nicht ausreichen, um ihn gegen alle Herausforderungen und gegen Fundamentalkritik zu verteidigen.
    Der heutige Sozialstaat ist im Wesentlichen ein nachsorgendes, reparierendes, alimentierendes, zentralistisch organisiertes System, das nicht frei von Fehlanreizen ist und Verfestigungen in einer Unterschicht nicht verhindern konnte. Seine Grundlast wird immer drückender, weil er tendenziell Ansprüche kumuliert. Seine Instrumente stoßen dort an Grenzen, wo er den Empfängern von Transferzahlungen keine Impulse mehr gibt, ihre Marginalität zu überwinden, und ihnen keine Aufstiegschancen eröffnet, wie der Historiker Paul Nolte einmal sinngemäß in einem Beraterkreis während meiner Zeit als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ausführte, sondern sie dort parkt und ruhigstellt.
    Der Sozialstaat der Zukunft muss dagegen ein vorsorgender, aktivierender und investierender sein, der Menschen so weit befähigt, dass sie entweder gar nicht erst in Nöte geraten oder sich aus Notlagen - mit fördernder Unterstützung - wieder befreien können. Er berücksichtigt, dass die Chancen der Menschen auf dem Arbeitsmarkt nicht nur von der Nachfrage abhängig sind, sondern auch von den Qualifikationen, die der Einzelne anzubieten hat. Deshalb ist es mit der bloßen Zuteilung von Rechten und Überweisungen von Geld nicht getan. Der vorsorgende Sozialstaat investiert in die Angebotsqualität seiner Bürger, um sie im und für den Wandel wetterfest zu machen. Seine Effektivität lässt sich nicht an der Größe seiner (Um-)Verteilungsmaschine und der Höhe seiner Sozialsätze messen. Er ist auch nicht billiger, aber allemal preiswerter.
    Wie aber sieht unser Sozialstaat der Gegenwart aus? Auch wenn es alljährlich zum 1. Mai lokal berüchtigte Gewaltausbrüche gibt und in den Problemzonen fast aller

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