Unterm Strich
deutschen Großstädte eine Unterschicht anzutreffen ist, die vom Haben und Sagen weit abgekoppelt ist und sich in ihrem Sozialverhalten unterscheidet: Allgemein wiegt sich unser Land in einer Grundgewissheit, in der eine Spaltung der Gesellschaft, eine Vergiftung des sozialen Klimas und eine breite Verunsicherung durch millionenfache Existenzgefährdungen schlicht nicht vorkommen. Das Vertrauen darauf, dass unsere Gesellschaft zu integrieren vermag, was sie in eine Unwucht bringen könnte, scheint - auf den ersten Blick - fest verankert. Dennoch ist festzustellen, dass sich diese Gewissheit verflüchtigt. Sie kippt nicht in das Schreckensbild von sozialen Unruhen um. Aber die Erkenntnis wächst, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt fragil geworden ist und wir uns einer Stabilitätsillusion hingeben könnten, die uns daran hindert, das Notwendige für Balance und Orientierung in unserer Gesellschaft zu tun. Stärker, als bisher eingestanden, drängt sich zu Beginn des neuen Jahrzehnts etwas auf, was im herkömmlichen Sprachgebrauch unter der Gerechtigkeitsfrage verstanden wird. Die Tendenzen und Trends in unserer Gesellschaft, die zu dieser Frage führen, sind mit Händen zu greifen, werden aber politisch und vor allem in den besser möblierten Etagen unseres Gesellschaftsgebäudes eher unterschätzt. Dagegen sprechen einige Sozialwissenschaftler plastisch von »ignorierten Zeitbomben«.
Eine Erschütterung der sozialen Stabilität ergibt sich aus einer zementierten Arbeitslosigkeit und einer existenziell nicht auskömmlichen Beschäftigung - den sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen. Hier öffnet sich die Schere der Einkommens- und Vermögensverteilung und koppelt im unteren Bereich viele von der Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung ab, während sich der obere Teil der Gesellschaft nicht nur die Sahnehäubchen, sondern immer größere Stücke vom Kuchen sichern kann. Im Ergebnis haben wir heute eine Kluft in der Einkommens- und Vermögensentwicklung wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Diese Verteilungsdisparitäten gewinnen eine eigene Dynamik in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und wecken Rufe auch nach radikal einfachen und höchst populären, aber ebenso zweifelhaften Lösungen.
Die materielle Lage von Familien oder Alleinerziehenden ist zugleich maßgeblich für den nächsten Treibsatz: mangelnde Bildung und Ausbildung. Fehlende Schul- und Ausbildungsabschlüsse präjudizieren nicht nur die »Karriere« auf einem ohnehin harschen Arbeitsmarkt. Sie legen fest, wer auf ihm zum vorprogrammierten Verlierer wird und deshalb von einem nachsorgenden und reparierenden Sozialsystem mit entsprechenden Kosten aufgefangen werden muss. Aber mehr als das: Da Arbeit über den reinen Broterwerb hinaus auch für das Selbstwertgefühl und für die soziale Anerkennung von grundlegender Bedeutung ist, wird sich eine berufliche Deklassierung im individuellen Sozialverhalten und in der Geringschätzung gesellschaftlicher Normen und Regeln widerspiegeln. Zu der Erfahrung, in Jobs mit Niedriglöhnen ausgebeutet zu werden, tritt zusätzlich die Erfahrung der Ausgrenzung derjenigen, die sich längerfristig nicht mehr in die Arbeitswelt integrieren lassen - und dann auch irgendwann nicht mehr integrationsfähig und integrationsbereit sind. Das beeinträchtigt die innere Verfassung der Gesellschaft und sucht nach einem politischen Ausdruck, der sich zuerst an den Rändern des Spektrums findet.
Das Integrationsproblem ist keineswegs beschränkt auf Bürger mit Migrationshintergrund. Dort manifestiert es sich zweifellos auch, aber tatsächlich geht es um die Integration eines bestimmten sozialen Milieus insgesamt, in dem vornehmlich Arbeitslose, Geringverdiener, alleinerziehende Frauen und Migranten »abgehängt« oder besser ausgeschlossen sind von Partizipation und Bildungsangeboten. Die Abschottung der »bürgerlichen Gesellschaft« gegen dieses soziale Milieu, das sich seinerseits in Vierteln mit »besonderen sozialen Problemen« konzentriert, schützt vor der Sprengkraft dieses Treibsatzes nicht. Stadtteile lassen sich auf Dauer nicht abriegeln.
Eine verunsicherte und von Abstiegsängsten geprägte Mittelschicht, die den stabilitätsbildenden Kern der Gesellschaft darstellt, ist nicht weniger ein Gefahrenmoment. Mit einer Erosion dieser definitorisch schwer zu fassenden, aber millionenfach erfahrbaren Mittelschicht, von der Kindergärtnerin bis zum Handwerksmeister mit fünf
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