Unterm Strich
drohe. In der turnusmäßigen Bundespressekonferenz saß daraufhin der Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales an jenem Freitag auf einem heißen Stuhl. Die Horrorvorstellung, dass 20 Millionen teils hochmobile und mobilisierbare Rentner so kurz vor der Bundestagswahl auf die Barrikaden gehen könnten, führte am selben Tag zu einer prompten Reaktion der Bundesregierung. In einer Presseerklärung stellte der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz, klar: »In Deutschland werden die Renten nicht gekürzt. Nicht im nächsten Jahr, auch nicht in späteren Jahren.« Die Rentengarantie war geboren, ehe ein anderes Ressort auch nur einen Mucks von sich geben oder gar das gesamte Kabinett die Vor- und Nachteile abwägen konnte. Zu einer Kabinettsbefassung kam es bereits am 6. Mai 2009. Die Gefahr einer »Wutwelle« der Rentner schien einigen Spitzenvertretern auf beiden Seiten der großen Koalition kurz vor der Bundestagswahl einen unvergleichlich größeren Schreck einzujagen als ein Zornesausbruch der jungen Beitragszahler unter den aktiv Beschäftigten und ihrer Arbeitgeber, wobei man darauf zählen konnte, dass diese Gruppe den Bumerang, der ihnen aus verschobenen Rentenkürzungen zeitverzögert, aber zielsicher an den Kopf fliegen würde, entweder gar nicht erkennen oder für einen Soff ball halten würde. Außerdem sollte die schöne Nachricht, dass nach quälenden Nullrunden zum 1. Juli 2009 die höchste Rentensteigerung seit zehn Jahren mit einem Aufschlag von 3,4 Prozent im Osten und 2,4 Prozent im Westen anstand - übrigens eine überproportionale Erhöhung, gemessen an der Lohn- und Gehaltsentwicklung des Bezugsjahres 2008 -, nicht durch schlechte Nachrichten ausgehebelt werden.
Tatsächlich war diese Rentengarantie ein vom Publikum erstaunlich still zur Kenntnis genommener Systembruch. Die seit Einführung der dynamischen Rente fünf Jahrzehnte lang geltende Formel, nach der die Rentenanpassungen sich an der Entwicklung der Lohn- und Gehaltssumme (brutto) orientiert - also nicht nur steigen, sondern in schlechten Zeiten, wenn die Erwerbstätigen ein Minus haben, auch sinken kann -, wurde aufgegeben. An diesem lohnbezogenen System hatte bisher keine Rentenreform gerüttelt. Zuvor war bereits mit der Suspendierung zweier Maßnahmen - der »Riester-Treppe« und des »Nachhaltigkeitsfaktors« -, die das Rentensystem konjunkturell robuster und demographie-fester machen sollten, ein Prozess eingeläutet worden, der Rentenexperten erschaudern ließ.
Durch das Aussetzen der »Riester-Treppe« 2008 und 2009 und der Rentendämpfung 2005 und 2006 hatte sich schon eine Bugwelle von Mehrausgaben aufgebaut, deren Kamm 27 Milliarden Euro erreichen wird. Das im Bundestag am 19. Juni 2009 verabschiedete »gesetzliche Rentensenkungsverbot« werde, so die Prognose des Freiburger Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen, noch einmal zusätzliche Kosten in Höhe von 46 Milliarden Euro verursachen. Beitragssteigerungen seien dann unumgänglich. Die Rentenreformen von 2001 und 2004 hatten Beitragsobergrenzen festgesetzt. Wenn diese weiterhin gehalten werden sollen, dann gibt es nur einen Ausweg - nämlich eine Erhöhung des heute bereits mit über 80 Milliarden Euro enormen Zuschusses aus dem Bundeshaushalt zur Rentenversicherung. Dann allerdings ist der Steuerzahler dran. Bernd Raffelhüschen sah in der Rentengarantie eine eklatante Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes, da Arbeitnehmer in der Wirtschaftskrise mit Einbußen rechnen müssten, während Rentner davon ausgeschlossen würden: »Das Tricksen an der Rentenformel ist eine Politik zu Lasten unserer Kinder und Enkelkinder.« Und der aktuell Beschäftigten, muss hinzugefügt werden.
Jenseits aller Zahlen und Prognosen, über die gestritten werden dürfte, bleibt das Argument richtig, dass diese Politik dem Ziel der Generationengerechtigkeit widerspricht. Die Jungen, die heute erste Schritte ins Berufsleben unternehmen, haben mehr denn je Schwierigkeiten, überhaupt einen festen, sicheren Arbeitsplatz zu finden (»Generation Praktikum«). Wenn sie einen gefunden haben, müssen sie entweder höhere Rentenversicherungsbeiträge entrichten oder als Steuerzahler die Rentenkasse auffüllen, sich selbst aber auf ein niedrigeres Rentenniveau nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben einstellen. Ihre künftigen Ansprüche an die gesetzliche Altersversorgung werden für ein auskömmliches, würdiges Leben im Alter kaum
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