Unterm Strich
respektive als »Nanny-Staat« oder ineffiziente Dauerfürsorge diskreditiert wird, für die alle von Eigenverantwortlichkeit beseelten Bürger gemolken werden.
Das Streben nach Sicherheit dürfte ein menschliches Grundbedürfnis sein. Dabei ist materielle Absicherung das eine. Emotionale Geborgenheit und soziale Anerkennung, die im Wesentlichen Familie und Beruf verleihen, treten hinzu. Zerfällt beides, verdichtet sich das zu einem gesellschaftlich spürbaren Problem. Das Bild vom sozialen Netz hat einen hohen Symbolwert für Politik und Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland. Das hat auch etwas mit unserer schrecklichen und diskontinuierlichen Geschichte im 20. Jahrhundert zu tun - der massenhaften Erfahrung von Geld- und Vermögensvernichtung, Arbeitslosigkeit, Vertreibung und politischen Bewusstseinsbrüchen. Es wäre eher verwunderlich, wenn sich diese Traumata nicht tief in unsere kollektive Mentalität eingegraben hätten. Damit unterscheidet sich Deutschland beispielsweise von den USA, die von dem »frontier spirit«, dem Freiheitsdrang und dem Unternehmergeist mehrerer in ihren Heimatländern jeweils unterdrückter und verarmter Auswanderergenerationen geprägt sind. Ihre Risikobereitschaft und ihre Selfmade-Einstellung haben diesem Land einen ganz anderen Stempel aufgedrückt, der allerdings heute angesichts frappanter sozialer Defizite vielen Amerikanern selbst korrekturbedürftig erscheint.
Bezogen auf die ausgeprägte deutsche Wohlfahrtsmentalität, mag Kurt Biedenkopf keineswegs unrecht haben, wenn er meint, dass die deutsche Bevölkerung, vor die Wahl zwischen einem liberal-freiheitlichen Staat mit einer Betonung der Eigeninitiative und einem umfassenden Wohlfahrtsstaat gestellt, im Zweifelsfall für den Letzteren votiert. Dazu passt, dass einer deutlichen Mehrheit das wohlklingende Versprechen von Steuersenkungen höchst suspekt ist, wenn dies zu Einschränkungen der staatlichen Wohlfahrt und kommunalen Daseinsvorsorge führt.
Wenn nun aber dieser Sozialstaat unter die Mühlsteine von Demographie, Staatsverschuldung und Kosteneskalation gerät, stellt sich die zentrale Frage, ob das politische System in der Lage ist, den Bürgern die Konsequenzen nicht nur zu erklären, sondern auch aufzubürden. Ist in einer Demokratie der Grundsatz vermittelbar und konsensfähig, dass Ansprüche an den Sozialstaat nicht stärker wachsen können als seine Ressourcen, die vorher erwirtschaftet worden sind? Oder anders gefragt: Sind wir uns einig, dass wir uns in einer Generation nicht mehr leisten können, als wir zuvor geleistet haben? Wir sind uns nicht einig, wie jede Debatte über Reformen des Gesundheitssystems, die Zukunft der Pflegeversicherung, den Generationenvertrag in der Altersversorgung oder Hartz IV zeigt. Und nur unerschütterliche Sozialpolitiker können behaupten, dass ihnen die Wirtschafts- und Finanzpolitiker die Lufthoheit über die Definition von Sozialstaatlichkeit abgerungen haben. Wer welche Einzahlung über welchen Erhebungsmechanismus im Sozialstaat erbringen muss und wer auf welche Auszahlung über welchen Verteilungsmechanismus einen Anspruch hat, das stellt sich erst nach Klärung dieser Zentralfrage heraus. Sie verweist an den Anfang: die Erwirtschaftung dessen, was anschließend erst verteilt werden kann. Wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im globalen Wettbewerb und das Wachstumspotenzial nicht zuletzt aufgrund von Schwächen im Bildungssystem stagnieren oder sogar abnehmen sollten, dann entfallen die ökonomischen Voraussetzungen für die Finanzierung des Sozialstaates auf dem heutigen Niveau.
Genauso wirkt die Fiskalkrise der öffentlichen Haushalte in der Folge der Finanzkrise und des Konjunktureinbruchs. Die Milliardenprogramme zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise haben die ohnehin schon hohe Staatsverschuldung auf eine weitere Rekordhöhe geschraubt. Die Stabilisierung wurde bei uns und mehr noch in anderen Ländern mit einer schwindelerregenden Staatsverschuldung erkauft. Einige Stimmen aus dem wirtschaftswissenschaftlichen und dem Gewerkschaftslager fordern sogar noch weit höher dotierte Konjunkturprogramme, ohne den eingebauten Detonator mit späterer Zündung ernst zu nehmen. Denn mit zunehmender Staatsverschuldung wird der Spielraum, soziale Sicherungssysteme mit Zuschüssen aus dem öffentlichen Haushalt zu unterstützen, immer geringer - es sei denn, man stockt die Einnahmeseite durch höhere Steuern auf, was in beträchtlichem Umfang geschehen
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