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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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dürfen die Politik allerdings nicht davon abhalten, sich gegen das weitere Durchwursteln zu entscheiden. Ohne Mut zum Umbau wird der Sozialstaat unter dem ökonomischen und demographischen Druck früher oder später kollabieren. Die entsprechenden Reformen brauchen Zeit. Sie müssen die Chance haben, sich zu bewähren und ihre Wirkung erst zu entfalten. Nachjustierungen folgen Erkenntniszuwächsen und dürfen im Durcheinander der Aufgeregtheiten nicht als Scheitern diskreditiert werden. Wenn man sich an einem solchen Wechsel keinen Bruch heben oder schon mit Vorüberlegungen im politischen Kreuzfeuer stecken bleiben will, muss man mit einer Analyse des derzeitigen Systems den Weg bereiten. Die dürfte aufzeigen, dass die Risiken einer permanenten Reparatur größer sind als die eines schrittweisen Übergangs in ein neues System der sozialen Absicherung und ihrer Finanzierung.
    Das heutige System ist trotz 60 auszahlender Stellen ein zentralistischer, trotz steigender Zuschüsse aus dem Steueraufkommen ein überwiegend abgabenfinanzierter, vornehmlich alimentierender und kaum vorsorgender Sozialstaat. Unter Einschluss der Rentner betreut er 28 Millionen Kunden, also ein Drittel der Gesamtbevölkerung, über eine entsprechend große Administration. Er setzt jährlich rund 754 Milliarden Euro um. Das entspricht rund 31 Prozent unserer Wirtschaftsleistung, womit Deutschland auf einem Spitzenplatz unter den OECD-Ländern rangiert. 70 Cent von jedem über Steuern eingenommenen Euro des Bundeshaushalts fließen in Sozialleistungen. Wer da die Arie von einer Demontage des Sozialstaates singt, hat viel Sinn für Propaganda, aber nicht für Realitäten.
    Damit sind wir auf der Spur: Trotz seiner Leistungen produziert der Sozialstaat offenbar keine Zufriedenheit. Die einen empfinden ihn als überfinanziert, ineffizient, mit Fehlanreizen behaftet und bürokratisch, die anderen als unterfinanziert, schwach, nicht fürsorgend genug. Nur in einem sind sich die Kritiker beider Lager einig. Der Sozialstaat, sagen sie, sei ungerecht.
    Wie aber soll der Sozialstaat heutiger Prägung der je verschiedenen individuellen Bedürftigkeit von 28 Millionen Kunden gerecht werden? Er muss standardisieren und typisieren. Das wiederum führt massenhaft zu Unzufriedenheit und zu Schieflagen.
    Während sich viele der Arbeitslosen und Rentner über zu niedrige Zahlungen in die Armut verdrängt und als antragstellende Bittgänger entwürdigt sehen, obwohl sie jahrelang in das Sozialversicherungssystem eingezahlt haben, kann es einem anderen Teil gelingen, sich mit staatlichen Transfereinkommen über Wasser zu halten - erst recht in Kombination mit Gelegenheits- oder Schwarzarbeit -, die mindestens nahe bei der tariflich vereinbarten Entlohnung von Vollzeitbeschäftigten liegen können. Während einerseits die Bitterkeit über Ungerechtigkeit und Missachtung wächst - auch und gerade im Angesicht einer Bereicherungsmentalität auf der Sonnenseite der Gesellschaft -, wird andererseits das sogenannte Lohnabstandsgebot (wer arbeitet, soll mehr in der Tasche haben) täglich widerlegt, was mit dem fatalen Fehlanreiz einhergeht, sich im System staatlicher Sozialleistungen einzurichten. Schließlich kriegen all jene einen dicken Hals, die Vollzeit arbeiten, Steuern und Sozialversicherungsabgaben in den großen Topf des Solidaritätssystems zahlen und dann registrieren, dass sie netto -»cash in die Täsch« - weniger haben als ihr Nachbar, der auf Stütze lebt und keine Gegenleistung zur Entlastung der Solidargemeinschaft erbringt.
    Diese Beschreibung leuchtet gewiss nicht alle Facetten aus. Aber sie spiegelt einen politisch relevanten Ausschnitt der Wirklichkeit. Ihr mit einer Beißhemmung zu folgen fällt erkennbar schwer. Denn sie läuft auf das schwierige Eingeständnis hinaus, dass dieses große Rad des Sozialversicherungssystems Ungerechtigkeiten und Ineffizienzen produziert, die bisher keine Sozialreform in den Griff bekommen hat. Einerseits wächst also die Unzufriedenheit am und im Sozialstaat, weil »immer mehr Menschen, Rentner, Bedürftige ... merken: Der Sozialstaat lässt uns im Stich« (Kurt Biedenkopf). Andererseits beschädigt der Sozialstaat mit jedem weiteren vollmundigen Versprechen, das seine Kunden eigentlich zufriedenstellen soll, seine Leistungsfähigkeit und steigert darüber die ohnehin schon vorhandene Enttäuschung. Sowohl seine politische Legitimation als auch seine Finanzkraft erodieren.
    Für meine Partei ist dies starker

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