Unterm Strich
sozial Bedürftigen die Tore von Ministerien zu öffnen vermögen. Die logische Konsequenz für sie lautet: Meide sozialversicherungspflichtige Jobs. Der eine Teil dieser Generation weicht in die Selbständigkeit mit Tendenzen der Selbstausbeutung aus. Der andere Teil sucht sein Heil im öffentlichen Dienst. Einige treten auch den Rückzug an und organisieren sich in Familienverbänden oder Nischen, in denen eine Kultur der Bescheidenheit (Kurt Biedenkopf) gepflegt und dem Stress der Karriere und Konkurrenz entsagt wird. Und ein anderer Teil haut schlicht und einfach ins Ausland ab.
Dem erwähnten Artikel von Gunnar Heinsohn ist zu entnehmen, dass seit dem Jahr 2004 jährlich 140000 bis 170000 qualifizierte junge Leute Deutschland verlassen. Eine solche Tendenz kann ich aus dem Mikrokosmos meiner Einzelgespräche bestätigen. Sie gehen dem Land nicht nur als Produktivkräfte - in einer alternden Gesellschaft! - verloren. Sie entziehen auch dem Sozialversicherungssystem seine Refinanzierungsgrundlagen. Heinsohn führt diese Zahlen und den damit verbundenen Vorgang in einem breiteren Zusammenhang an, der das Brennglas noch einmal auf die demographischen Kalamitäten richtet: In Deutschland werden jährlich etwa 680000 Kinder geboren. Erforderlich wären 14 Millionen Neugeborene, um einer Bevölkerungsabnahme und damit einer weiteren Verzerrung des Altersaufbaus entgegenzuwirken. Dementsprechend fehlen jährlich 420 000 Kinder. Zählt man nun bei weiter anhaltenden Defiziten der Kinderbetreuung sowie des Schul- und Ausbildungssystems 170000 sogenannte Nichtausbildungsfähige eines Jahrgangs hinzu, dann läge der Fehlbestand bei rund 600 000. Wenn dann auch noch 140 000 bis 170 000 qualifizierte junge Leute jährlich das Land verlassen, dann verbleiben von den 1,1 Millionen benötigten Nachwuchses gerade einmal rund 350 000 Ausbildungssichere - gleich 30 Prozent des jährlichen Bedarfs. Diese Perspektive ist erschütternd.
Der herrliche Rat eines Football-Trainers, an seinen Quarterback gerichtet - »Kommst du an eine Weggabelung, dann nimm sie« -, weckt auch in der Politik Phantasien über die stürmische Überwindung all dieser zähen, wie Kaugummi unter der Fußsohle klebenden, immer wieder nachwachsenden Probleme. In der Wirklichkeit des politischen Alltags impliziert jede Entscheidung sofort eine unüberschaubare Kette von Folgeerscheinungen, die off genug die Entscheidung selbst zu konterkarieren drohen. Dies gilt insbesondere für die Stellschrauben im Sozialsystem. Wer hier irgendwo zu drehen anfängt, handelt sich mit Sicherheit, wenn nicht beim politischen Gegner, so doch zumindest in den eigenen Reihen, einen politischen Platzverweis ein. Der Versuch, die immanenten Fehlsteuerungen, Fehlanreize, Überdehnungen oder Ungerechtigkeiten im Sozialsystem zu korrigieren, bringt allenfalls einen leichten Zeitgewinn. Dann schlägt das System wieder zu. Noch jede Drehung an einzelnen Stellschrauben brachte vornehmlich neue Probleme, neue Unwuchten, neue Ungerechtigkeiten und einen weiteren Handlungsbedarf. Eine unendliche Geschichte mit vielen Frustrierten am Wegesrand.
Nicht nur die Hartz-Reformen sind ein Paradebeispiel dafür, welche Nachjustierungen ausgelöst und nötig werden, wenn in das Gewinde der sozialpolitischen Mechanik eingegriffen wird und sich die praktischen Auswirkungen gegenüber der gutgemeinten Theorie verselbständigen. Die Personalservice-Agenturen und die sogenannte Ich-AG aus den Paketen Hartz I und Hartz II verschwanden 2006 beziehungsweise 2008 wieder von der Bildfläche. 2007 adressierte das Bundesverfassungsgericht Bund und Ländern neue Hausaufgaben, weil die Jobcenter eine unzulässige Mischverwaltung von Bund und Kommunen seien. Ein Kompromiss zum Erhalt der Jobcenter ist inzwischen verabschiedet. 2010 befasste sich das Gericht wieder mit der Hartz-Reform und erklärte die Berechnungen des Kinderregelsatzes nach Hartz IV für nicht verfassungskonform. Sisyphus war ein glücklicher Mensch? Tatsächlich sind die politischen Wege an der Gabelung nie geradlinig und erlauben selten eine eindeutige Entscheidung.
Vom Gesundheitssystem über die Grundsicherung mit der Frage nach angemessenen Regelsätzen bis zum Pflegebereich zeigt sich überall: Wo immer das große Rad im Sozialstaat gedreht wird, müssen viele kleine und mittelgroße Schrauben berücksichtigt werden, um den Rundlauf des gesamten Systems halbwegs zu gewährleisten. Das und die vorhersehbaren enormen politischen Hürden
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