Unterm Strich
Tobak. Das in einer öffentlichen Rede auszusprechen ist eigentlich nicht erlaubt, denn zum einen liefert eine solche Beschreibung Gegnern des Sozialstaates, die von Renovierung sprechen, aber eine Remedur meinen, zu viel Munition. Wichtiger noch ist Folgendes: Der weit überwiegende Teil der SPD stellt »sich die soziale Demokratie im geschichtsphilosophischen Optimismus als kontinuierlichen Ausbau der Sozialquote, des öffentlichen Sektors, der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen vor«. Ein Zweifel, dass dies auch über die 150-jährige Geschichte der SPD hinaus noch so funktionieren kann, richtet sich daher gegen diesen Zukunftsoptimismus der SPD, ja gegen ihr ganzes Selbstverständnis und ihre konstitutive politische Botschaft. Wenn die Erweiterung des staatlichen Leistungsangebots im Rahmen der Sozialpolitik an ökonomische, demographische und systemische Grenzen stößt, wie soll sie dann noch Gesellschaftspolitik betreiben, fragt sich die SPD und signalisiert ihre Ratlosigkeit. Aber sie ist die einzige politische Kraft, die diesen Sozialstaat wieder auf die Füße stellen kann. Das konservativ-bürgerliche Lager steht unter dem Generalverdacht, den Sozialstaat schleifen zu wollen, und mobilisiert damit Potenziale, die sich jeder Renovierung widersetzen. Das politische Paradox lautet, dass nur eine sozialstaatlich geerdete Partei den Sozialstaat »modernisieren« kann - so wie nur eine konservative Partei in der Lage ist, das gegliederte deutsche Schulsystem ohne »bürgerliche« Aufstände zu überwinden.
Die SPD muss sich den Gefährdungen und Wandlungen des Sozialstaates stellen. Verpasst und verpatzt sie das, in Treue fest zu Überzeugungen und Glaubenssätzen vergangener Jahrzehnte, ist auch eine 150-jährige Geschichte keine Garantie für eine führende politische Rolle. Andere politische Kräfte, eventuell weniger universal von den Themen her aufgestellt, nähmen ihr dann den Staffelstab aus der Hand.
Das Resümee, dass der heutige Sozialstaat nicht nur politischen Zuspruch verliert, weil er von vielen als ungerecht empfunden wird, sondern auch seine finanziellen Voraussetzungen einbüßt, ist schon schwer verdaulich. Wenn dann auch noch seine zentralistische Organisation in Frage gestellt wird, kann der Spaß sehr schnell aufhören. Sie kann die Vielfalt der sozialen Lagen von Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr berücksichtigen. Die Spannbreite, von alleinerziehenden Frauen mit geringem und ohne Hinzuverdienst über ALG-I-Empfänger mit drei oder 30 Jahren Beschäftigung auf dem Buckel über Rentner mit einer Grundsicherung im Alter, gleich, ob sie in München oder in Husum leben, über Pflegebedürftige mit oder ohne familiären Hintergrund bis hin zu Hartz-IV-Empfängern mit oder ohne Vermögen beziehungsweise Hinzuverdienst, ließe sich noch viel weiter öffnen. Sie belegt, wie ausdifferenziert inzwischen die individuelle soziale Situation der Menschen ist, die auf Hilfe angewiesen sind. In einem Sozialsystem, das Antragsteller standardisieren muss, um ihre zweistellige Millionenzahl überhaupt bewältigen zu können, kommt es deshalb zwangsläufig zu Ungerechtigkeiten.
In der dünnen Luft sozialpsychologischer Deutungen passiert es nicht selten, dass die Ausfälle gegen den Sozialstaat an Sauerstoffmangel leiden - und mancher Kritiker lässt sich von seiner puren Lust an der Polemik hinreißen. Bei Norbert Bolz liest sich das so: »Die Tyrannei der Wohltaten erzeugt jene Sklavenmentalität, die Sozialpsychologen als erlernte Hilflosigkeit charakterisiert haben.« Bei anderen Zeitgenossen ist, weniger zugespitzt, von entmündigten Hilfeempfängern, vormundschaftlich gemaßregelten Untertanen, der Erstickung jeder Eigeninitiative, organisierter Verantwortungslosigkeit oder Selbstbedienungsmentalität die Rede, wenn es um die Deformationen des Wohlfahrtsstaates geht. Die Risiken einer den Staat überfordernden Anspruchsinflation will ich nicht geringschätzen, und ich will auch nicht die schädlichen Auswirkungen eines Fürsorgeprinzips, das jedwede Unbill und Benachteiligung all der Opfer in unserer Gesellschaft - deren Liste mancher spielend auf über die Hälfte der Bevölkerung dehnt - zu kompensieren sucht, auf den Unternehmungsgeist, die Dynamik und Verantwortungsbereitschaft einer Gesellschaft in Abrede stellen. Ich fürchte allerdings, dass solche sozialpsychologischen Betrachtungen eher hinderlich sind, weil sie zu krassen Verallgemeinerungen neigen, und sich politisch als kontraproduktiv
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