Unterm Strich
Das ist faktisch kaum zu widerlegen, aber daraufkam es nicht an. Dabei versuchte ich mit dem Wort »insgesamt« deutlich zu machen, dass ich davon durchaus die Lage einzelner Rentner, die über nicht mehr als eine Grundsicherung verfügen, zu unterscheiden wusste. Den Zusatz, dass dieses Niveau für kommende Rentnergenerationen ohne weitere Anstrengungen wahrscheinlich nicht zu halten ist, verkniff ich mir. Das Echo auf dieses Interview kulminierte in der großformatigen Überschrift auf Seite eins der Berliner Boulevardzeitung B.Z.: »Minister Steinbrück beleidigt die Rentner«.
Diese Beispiele aus eigenem Erleben sollen deutlich machen, wie in der medialen Vermarktung einerseits Nebensächlichkeiten aufgeladen und andererseits Probleme erheblichen Kalibers, offen angesprochen und gegen den Strich der Sozialverträglichkeit gebürstet, einem Mechanismus der Skandalisierung ausgesetzt werden. Das gilt in einer Breite, die unsere Zukunftsfähigkeit beeinträchtigt. Das erstaunliche Phänomen dieser medialen Ausbeutung der Politik ist, dass dieselben Medien, die über einen Mangel an politischen Führungsqualitäten, über politischen Opportunismus und profillose Politiker klagen, jeden Ausreißer, jede Tabuverletzung und jede parteipolitische Abweichung bestrafen. Sie nutzen dies, um Funken zu schlagen und Kronzeugen zu verhaften, die gegen ihre jeweilige Partei antreten. Damit »erziehen« sie Politiker zu einem Verhalten, das ihren Erwartungen an Politiker vollkommen widerspricht.
Richtig ist, dass der Artikel 5 unseres Grundgesetzes - also das Recht eines jeden, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild zu verbreiten - schwerer wiegt als die Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Die freie Meinungsäußerung ist ein Eckpfeiler unseres Grundgesetzes. Die Wahrhaftigkeit ist »lediglich« ein moralischer Appell an Politiker und Journalisten. Aber wenn sie verkommt, steht es schlecht um die nicht geschriebene Verfassung unserer Gesellschaft. Über die Qualität der politischen Klasse, ihre Rituale, Selbstinszenierungen und parteipolitischen Lebenslügen lässt sich zu Recht streiten. Aber dieselben Medien, die den Verfall der politischen Qualität beklagen, drängen ihr ihre eigenen Maßstäbe auf, wie Erhard Eppler richtig feststellte. Sie belohnen Verhaltensweisen, die Politik erschweren oder sogar ausschließen. Sie bedienen sich der Profilsüchtigen und stempeln solide Arbeiter zu Langweilern ab, wie er hinzufügte.
Den Politikern unter den Lesern, die sich gelegentlich über einzelne Zeitungsartikel aufregen, bleibt Trost zu spenden - mit einem weisen Zitat unbekannter Herkunft: »Die Hälfte der Leute hat die Zeitung gar nicht gekauft. Die Hälfte der Leute, die die Zeitung gekauft haben, hat den Artikel gar nicht gesehen. Die Hälfte derer, die ihn gesehen hat, hat ihn nicht gelesen. Die Hälfte derer, die ihn gelesen hat, hat ihn nicht verstanden. Und die Hälfte derer, die ihn verstanden hat, hat ihm nicht geglaubt - also worüber regen Sie sich auf?«
VII - Neuvermessung der Politik
Die Abdankung politischer Weltanschauungen und die Zukunft der Parteiendemokratie
Der Einsturz der letzten großen Glaubenskathedrale, des totalitären Sozialismus, markierte 1989 das Ende des Zeitalters der Extreme (Eric Hobsbawm). Die Politik heute ist von keiner Ideologie oder Leitidee, von keiner mitreißenden Kraft mehr durchdrungen, wie sie die europäische Geistesgeschichte im fortschrittlichen Sinne, aber auch mit den katastrophalen Folgen der beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Wir sind Verfassungspatrioten und ausgesprochen zufrieden mit dem Grundrechtskatalog im Grundgesetz.
Von diffusen und marginalen Ausnahmen an den Rändern des politischen Spektrums abgesehen, bietet keine Partei mehr eine geschlossene Weltanschauung. In früheren Zeiten vermochte gerade ideologische Geschlossenheit wegen ihres umfassenden Deutungsanspruchs große Gefolgschaften und wirkungsmächtige Bewegungen zu begründen. Entsprechend hat sich unsere politische Landschaft nicht ganz, aber weitgehend entideologisiert. Eine überragende Mehrheit der Bürger empfindet das als Fortschritt. Ich auch. Ich will einfach nicht von Leuten regiert werden, deren Weltanschauung ein so hehrer Zweck ist, dass damit äußerste Mittel gerechtfertigt werden könnten. Missionare jedweder Couleur - von sozialistischen Funktionären über ökologische Erziehungsbeauftragte, liberale Entfesselungsjünger und nationalkonservative Blockwarte
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